Kulturwandel:Gucken bis zum Abwinken

Wer unter 35 Jahre alt ist, verbringt viel, viel Zeit mit Serien und Filmen aus dem Internet. Die Trennung zwischen Jung und Alt wächst weltweit. Und die Macht des Fernsehens sinkt.

Von David Pfeifer

Detective Cohle, genannt "Rust"? Die Stand-Up-Komikerin Mrs. Maisel? Oder das Mädchen namens 11, auf englisch "Eleven"? Wer die nicht kennt, hat was verpasst. Allerdings etwas, was sehr viele Menschen in Deutschland verpassen: die preisgekrönten Serien "True Detective", "The Marvelous Mrs. Maisel" und "Stranger Things". Es sind die neuen Hits des Streaming-Zeitalters, sie laufen auf "Netflix", "Sky" und "Amazon Prime", den derzeit größten Anbietern in Deutschland. Vor allem junge Menschen nutzen deren Angebote, so eine neue Studie des Umfrage-Portals "YouGov". Zwei Drittel der 18- bis 34-Jährigen sind auf mindestens einer Plattform. Ab 35 Jahren sinkt der Wert. Es gibt noch eine deutliche Mehrheit der Bevölkerung, die normales, sogenanntes lineares Fernsehen empfängt. Die Studie ergab aber auch, dass die Digitalisierung das Fernsehverhalten rasant verändert.

Für alle, die mit dem Privatdetektiv Thomas Magnum, den Drombuschs oder den Cartwrights aufgewachsen sind: Man verpasst natürlich nicht wirklich was, wenn man Ostern nicht mit den Schlachtfesten in "Game of Thrones" oder "The Walking Dead" verbringt. Man kann sich stattdessen auch zurücklehnen und in das Wohlgefühl eintauchen, etwas zu tun, was viele Millionen zur gleichen Zeit in Deutschland tun. "Wer weiß denn so was? XXL" läuft am kommenden Wochenende, "Deutschland sucht den Superstar" und am Sonntag sogar "Das Traumschiff".

Häufig wird vom linearen Fernsehen als dem letzten Lagerfeuer der Menschheit gesprochen; manchmal ähnelt es aber eher dem Gefühl, sich dem Wetter auszusetzen, wie ein gemeinsamer Spaziergang im Nieselregen. Klar, das Programm ist lausig, je nach Abend - aber entscheidend ist doch, die große Gleichzeitigkeit zu spüren. Man kann sich darüber austauschen und eine Schicksalsgemeinschaft bilden. Geteiltes Leid hat etwas sozial Wärmendes, anders ließe sich der Erfolg des "Tatort" (ebenfalls wieder am Sonntag) gar nicht erklären.

Wahrscheinlich tut sich gerade ein neuer "Digital Divide" auf

Trotzdem vollzieht sich gerade fast unbemerkt ein nachhaltiger kultureller Wandel, ähnlich demjenigen, den man am Anfang des neuen Jahrtausends erleben konnte: Damals überschritt die Zahl der Privathaushalte mit Internet-Anschluss die 50-Prozent-Marke. In der Folge wurden soziale Netzwerke, Online-Flohmärkte, Internet-Versandhäuser, Video-Portale und Suchmaschinen entwickelt, die heute nicht nur die Privathaushalte dominieren, sondern auch die Börsen weltweit und die Art, wie Menschen miteinander kommunizieren. Es war vom "Digital Divide" die Rede, von der Trennung zwischen Menschen, die sich im Internet zu Hause fühlten, und denjenigen, die mit der digitalen Welt wenig anzufangen wussten, sich Musik auf Tonträgern kauften und in einem alten Brockhaus blätterten. Diese Trennung zwischen Neu und Alt, die auch damals schon meist eine zwischen Jung und Alt war, wird sich nun wiederholen: beim Streaming.

Kulturwandel: Die neuen Helden des Streaming-Zeitalters: oben die Jugendlichen aus „Stranger Things“, Eleven in der Mitte. Darunter Detective Cohle aus „True Detective“, eine dramatische Pose aus „Pose“ und die „fantastische Mrs. Maisel“ (von links). „Fargo“ als Serie darunter war die Umsetzung des Kino-Erfolgs in mehreren Teilen. Die alten Helden, wie die Simpsons, Privatdetektiv Magnum oder die Drombuschs, werden womöglich bald vergessen sein.

Die neuen Helden des Streaming-Zeitalters: oben die Jugendlichen aus „Stranger Things“, Eleven in der Mitte. Darunter Detective Cohle aus „True Detective“, eine dramatische Pose aus „Pose“ und die „fantastische Mrs. Maisel“ (von links). „Fargo“ als Serie darunter war die Umsetzung des Kino-Erfolgs in mehreren Teilen. Die alten Helden, wie die Simpsons, Privatdetektiv Magnum oder die Drombuschs, werden womöglich bald vergessen sein.

(Foto: Fotos: netflix (3), GC images, mauritius, fox, getty; Collage: Stefan Dimitrov)

Der Ausbau der Internet-Bandbreite machte es möglich, besser und schneller Bewegtbilder zu laden. Das befeuerte nicht nur die Porno-Industrie. Es bereitete überhaupt den Weg für die umfassende Veränderung des Medienkonsums, die wir derzeit erleben. Netflix, als DVD-Versender gegründet, stieg bereits 2007 in das Geschäft des "Video on demand" ein, des Filmverleihs per Internet. Doch was vor zehn Jahren noch mit langen Ladezeiten verbunden war, ist heute bequem zu haben; in jedem Fall besser, als im Sprühregen zur Videothek zu laufen. Etwa fünf bis zehn Euro kostet ein Amazon- oder Netflix-Abo derzeit in Deutschland, dabei könnte (und sollte) man alle zur Verfügung stehenden Inhalte in seinem Leben niemals gucken.

Nicht mal die Netflix-Leute selber behalten den Überblick. Die Firma beschäftigt mittlerweile eigene Rezensenten, die sich ansehen, was weltweit für das Portal produziert und online gestellt wird. 130 Millionen Abonnenten verzeichnet Netflix, bei einem Börsenwert von 142 Milliarden Dollar. Damit ist der Dienst Platzhirsch der Branche. Gaben 2015 nur drei Prozent der 18- bis 34-jährigen Deutschen an, mindestens einmal die Woche Netflix zu nutzen, sind es 2019 bereits 33 Prozent. Aber auch Amazon, Sky und andere binden Abonnenten. Disney und Apple verkündeten vor Kurzem, ebenfalls in das Streaming-Geschäft einzusteigen. Etwas spät, dafür aber mit Milliarden-Investitionen.

Auf dem Medien-Markt der Zukunft greift nicht mehr die Logik der alten TV-Ära

Auf dem Medien-Markt der Zukunft greift nicht mehr die Logik des alten Fernseh-Marktes, sondern die Mechanik des Internetgeschäfts. Wer die Marktführerschaft erringt, wird das Segment bald dominieren, vielleicht sogar ein Monopol erlangen. Dann kann man die Preise diktieren und Kasse machen. Anfangs gab es noch Konkurrenten für Facebook, Amazon und Google - heute kennt kaum jemand noch Myspace, Books Online oder Alando. Netflix-Gründer Reed Hastings stellt acht Milliarden Dollar für Eigenproduktionen alleine im Jahr 2019 zur Verfügung. Es wird also noch mehr Programm geben. Neben genannten Perlen ist dabei natürlich auch viel Schrott.

Vor allem aber ändern sich die Sehgewohnheiten drastisch, weil die Inhalte nicht mehr die Breite, sondern die Spitze der Konsumenten ansprechen sollen. Die Streaming-Anbieter wollen gar nicht konkurrieren mit den Samstagabend-Shows, und Kochsendungen, die im linearen Fernsehen laufen und die möglichst viele gleichzeitig anschauen sollen. Stattdessen werden spezielle Drama-Serien produziert, Filme und Dokus für kleine Zielgruppen riskiert, aus denen sich ein Streaming-Kunde sein Privatprogramm zusammenstellen kann. Serien sind besonders beliebt, weil sie das Publikum an einen Anbieter binden. Das LGBTQ-Drama "Pose" beispielsweise, von der Kritik hoch gelobt, wäre im linearen Fernsehen wohl durchgefallen. Für eine kleine Zielgruppe gibt es derzeit aber kaum etwas Besseres.

Energiefresser

Die Digitalisierung hat einen bisher kaum beachteten Preis: einen erhöhten Energieverbrauch. Oder anders gesagt: Selbst die digitale Technik, die helfen sollte, die Umwelt zu entlasten, besitzt, zumindest klimapolitisch betrachtet, einen Pferdefuß. Das geht aus einer Studie des französischen Thinktanks "The Shift Project" hervor. Danach steigt der Energiebedarf, der für Produktion und Betrieb von Handys und Computern, von Servern und Netzwerken gebraucht wird, jährlich um neun Prozent. Seit 2013 ist der Anteil, den der Energieverbrauch für digitale Technik an der globalen Klimaerwärmung hat, um die Hälfte von 2,5 auf 3,7 Prozent angewachsen. Haupttreiber dieses Anstiegs ist laut der Studie, die im März veröffentlicht wurde, die "Explosion bei der Videonutzung", sprich vor allem die enorme Zunahme des Streaming. In Anspielung auf die Klimakosten des globalen Flugverkehrs titelte die "Neue Zürcher Zeitung" treffend: "Streaming ist das neue Fliegen." SZ

Die Einschaltquote hat bei Streaming-Diensten nicht mehr das größte Gewicht. Wichtig ist nicht so sehr, wie viele Menschen eine Sendung sehen, sondern wie viele einen Dienst abonnieren, um eine Sendung zu verfolgen. Fans sind die bevorzugte Kundschaft. Sie fragen nicht lange, bevor sie einen Vertrag abschließen, den sie dann monatelang vergessen zu kündigen.

Früher war klar, worüber man sich nach dem Wochenende unterhalten konnte

Das fördert auch ein aus der Internet-Entwicklung bekanntes Phänomen: Filterblasen. Wer streamt, bekommt bald nur noch mehr vom Gleichen angeboten. Mehr aus dem Genre, mehr mit denselben Schauspielern. So besteht die Gefahr, dass Streaming die kulturelle Vielfalt nicht nur erweitert, sondern mit Dauer der Nutzung verengt und einschränkt. Allerdings ohne dass die Zuseher das gleich merken, weil sie ja nach ihren Interessen bedient werden. Das Prinzip der Serendipität, der zufälligen, glücklichen Entdeckung von etwas nicht Gesuchtem, funktioniert nicht mehr. Auch der gesellschaftliche Bezugsrahmen ändert sich. Wer früher montags zur Arbeit oder in die Schule kam, konnte erwarten, mit vielen anderen über "Wetten dass...?" reden zu können, den Nachmittagsfilm am Sonntag oder die Sportschau. Wer heute hingegen davon schwärmt, wie fein ziseliert die Charakterzeichnungen bei "Mr. Robot" oder "The Crown" sind, kann sich in einer Runde schnell allein fühlen.

Die Frage der kommenden Jahre wird sein: Wie tief greift der Kulturwandel in unseren Sehgewohnheiten? Wie viele Zuschauer, die einfach nur einen Fernseher stehen haben, bleiben den Sendern erhalten? Wie viele werden das eine tun und das andere nicht lassen, werden fernsehen und streamen? Was man prognostizieren kann: Der Wettbewerb um die Zeit und die Aufmerksamkeit der Zuschauer wird härter. In diesem Jahr wird die Zeit, die ein Mensch am Tag im Internet verbringt, haarscharf die Zeit überschreiten, die sie oder er vor dem Fernseher sitzen. 170,3 Minuten, fast drei Stunden am Tag, sehen Zuschauer weltweit fern. 170,6, also nur ein paar Sekunden mehr, sind Menschen inzwischen am Chatten, auf sozialen Medien, beim Online-Shopping oder eben am Streamen von Filmen und Serien.

Das große Lagerfeuer erlischt langsam.

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