Süddeutsche Zeitung

Kulturkampf in Jerusalem:Vandalismus im Namen des Herrn

Mitten im westlichen Hightech-Land Israel betreiben ultraorthodoxe Juden Geschlechtertrennung auf Taliban-Art. Immer häufiger gehen die Frömmler mit Gewalt gegen vorgebliche Sittenverstöße in Jerusalem vor. Doch nun formiert sich Widerstand in der Bevölkerung.

Peter Münch, Jerusalem

Es ist ein Ort mit wohlklingendem Namen. Or Hachaim heißt dieses Geschäft, Licht des Lebens, und der Laden strahlt eine Ruhe aus, wie sie nur in Buchhandlungen zu finden ist. Es wird geblättert und geraschelt, die Kundschaft huscht durch die Reihen brauner Holzregale, und in die Stille hinein raunzt der Verkäufer David Rotenberg: "Tüten mit Scheiße haben sie uns hier reingelegt, direkt neben die heiligen Schriften. Da siehst du mal, wie krank die sind."

Ein schmutziger Kampf, einer, der zum Himmel stinkt, tobt um diesen Buchladen mitten in Mea Schearim, dem ultraorthodoxen Wohnviertel im Zentrum von Jerusalem - und dies hier ist nur einer der unübersichtlich vielen Schauplätze, an denen derzeit um die Zukunft des ganzen Landes gerungen wird. Es kämpfen die säkularen Kräfte gegen die radikal-religiösen, es geht um jüdische Demokratie versus jüdische Theokratie.

In Mea Schearim ist dieser Kampf eigentlich schon längst entschieden, die Frommsten der Frommen bestimmen alle Regeln. Haredim werden sie genannt, die Gottesfürchtigen, weil sie von früh bis spät nur Thora und Talmud studieren. Doch Furcht verbreiten auch sie selbst überall dort, wo sie einen Verfall der Sitten wittern. Und sogar in ihrer Hochburg Mea Schearim sind sie noch fündig geworden - in den Regalen von Or Hachaim.

Fäkalwurf, verpackt in der Tüte

Unanständige Bücher haben sie dort ausgemacht, es ging um Zionismus und solche Sachen, und das schreit nach Aktion. "Ich weiß gar nicht mehr, wie oft sie die Fensterscheiben eingeworfen haben", sagt David Rotenberg, "bestimmt fünf oder sechs Mal, und die Polizei hat nie etwas dagegen unternommen." Am Ende kam dann noch die Sache mit den Fäkalien in Tüten, dann sind die Buchhändler eingeknickt. Rotenberg spricht von einem "Kompromiss", der darin besteht, dass die Radikalen freundlicherweise keine Steine mehr werfen und dafür bestimmen dürfen, welche Werke aus den Regalen zu verschwinden haben.

Heute finden sich bei Or Hachaim nur noch Bücher mit dem Koscher-Siegel der jüdischen Glaubenskrieger. Da gibt es den Erziehungsratgeber mit dem Titel "Frag den Rabbi", den Bildband "Erhabenheit und Ruhm" über die schönsten Synagogen Israels und natürlich heilige jüdische Schriften auf Hunderten laufenden Metern. Am Eingang zum Laden musste überdies ein Schild angebracht werden. "An unsere weiblichen Kunden", steht darauf geschrieben, "wir bitten Sie von ganzem Herzen, das Geschäft nur in züchtiger Kleidung zu betreten." Die Radikalen, so viel ist klar, haben die Schlacht gewonnen. Wieder einmal.

Angefangen hatte es ja schon vor zehn Jahren mit den Bussen, in denen sie die Geschlechtertrennung erzwungen haben - vorn sitzen die Männer, hinten die Frauen. Dann wurden zum Laubhüttenfest in Mea Schearim die Wege zur Synagoge mit einem Vorhang geteilt, damit sich Männer und Frauen nicht begegnen konnten. Und als vorige Woche die Wahlen zur Bezirksvertretung anstanden, ging der Kampf um getrennte Wahlurnen los.

In Schwimmbädern, in Krankenhäusern, in Supermärkten - überall wird mitten im westlichen Hightech-Land Israel Geschlechtertrennung auf Taliban-Art praktiziert. Die Gerichte mögen das bis hin zum Obersten Gerichtshof immer wieder verbieten, die Politiker mögen mahnen, die Praxis aber beschränkt sich längst nicht mehr nur auf die Quartiere der Frommen.

Im Landesdurchschnitt stellen die Ultraorthodoxen neun Prozent der Bevölkerung, doch das ist nur ein Zwischenstand. Jedes dritte Kind wird heute in eine Haredim-Familie hineingeboren, und in Jerusalem machen die Frommen bereits ein Viertel der 800.000 Einwohner aus. Zur Folge hat das zum Beispiel, dass in der ganzen Stadt plötzlich jegliche Werbung mit Frauen von den öffentlichen Anzeigetafeln verschwand, nachdem die Werbeagenturen durch zähen und gezielten Vandalismus mürbe gemacht worden waren.

In Tel Aviv konnte man kürzlich auf einem Plakat des Bekleidungshauses Honigman das Modell Sandy Bar in ganzer Schönheit sehen, im 60 Kilometer entfernten Jerusalem war in der Werbung von der Dame nur noch ein Arm zu sehen, an dem eine Handtasche baumelt. So werden die Frauen unsichtbar gemacht in aller Öffentlichkeit. Und selbst in der Armee, also im Herzen der Nation, tobt inzwischen der Geschlechterkampf, seitdem national-religiöse Offiziersanwärter von ihren Rabbis dazu angehalten wurden, Zeremonien zu boykottieren, bei denen Frauen singen.

So dramatisch ist die Lage, dass sogar vom fernen Amerika aus die Außenministerin Hillary Clinton sich schon besorgt geäußert hat über die wachsende Diskriminierung von Frauen beim engsten aller Verbündeten. Doch langsam regt sich auch in Israel selbst der Widerstand der schweigenden Mehrheit - und das wird auch höchste Zeit, findet Mickey Gitzin.

"Wir verhandeln nicht"

Vor zwei Jahren hat er die Bewegung "Be Free Israel" ins Leben gerufen, deren Aktivisten die Fahne des säkularen Staates hochhalten wollen. "Ich habe keine Angst vor den Palästinensern und auch nicht vor Iran", sagt er. "Der wirkliche Kampf um die Zukunft Israels wird im Innern geführt."

30 Jahre ist er alt, und er lebt jetzt in Tel Aviv. Wie so viele andere hat er Jerusalem den Rücken gekehrt nach dem Studium. "Ich könnte dort zurzrit nicht leben", meint er, "wenn ich einen Kaffee trinken gehe, möchte ich mich zu Hause fühlen." Unter all den Frommen mit der schwarzen Kluft und den Schläfenlocken aber fühlte er sich als Fremder. Aufgeben will er die Stadt allerdings noch lange nicht. "Wir verhandeln nicht mit den Haredim über eine Zwei-Staaten-Lösung", sagt er. "Wir machen von jetzt an einfach auch einmal laut auf uns aufmerksam. Viel zu lange schon haben wir unsere liberalen Werte vergessen."

Leicht ist es gewiss nicht immer, daran zu erinnern. Als Mickey Gitzin mit Gleichgesinnten in Mea Schearim gegen die Geschlechtertrennung protestieren wollte, da wurden sie mit Steinen und gebrauchten Windeln beworfen. "Immerhin haben wir die Polizei provoziert, uns zu beschützen", sagt er - auch das verbucht er als Erfolg nach allzu langer Untätigkeit der Ordnungshüter. Zufrieden ist er auch mit einer von ihm organisierten Demonstration in Jerusalem, bei der neulich eine Frauenband aus populären israelischen Musikerinnen ganzkörperverhüllt zum Gesang antrat. Bei einer anderen Aktion ließen sich Frauen für Protestplakate, die überall in Jerusalem aufgehängt wurden, unter dem Motto "unzensiert" fotografieren.

Und Schlagzeilen machte in dieser Woche eine junge Frau namens Tanja Rosenblit, die im Bus von Aschdod nach Jerusalem einem Ultraorthodoxen die Stirn bot und sich weigerte, hinten im Bus Platz zu nehmen. Die Medien vergleichen sie nun gern mit Rosa Parks, jener Afroamerikanerin, die anno 1955 in Alabama in einem Bus gegen die Rassendiskriminierung aufbegehrte.

Selbst die Politik scheint mittlerweile aufzuwachen. Für Gitzin tragen die Parlamentarier und Minister eine beträchtliche Mitschuld an der Misere, weil sie den Religiösen stets Tür und Tor geöffnet haben für immer neue Forderungen. Zwar sind Frauen in Israels Politik sogar teils prominenter vertreten als in vielen anderen Ländern. In Golda Meir hatte der jüdische Staat schon 1969 erstmals - allerdings auch zum einzigen Male - eine Regierungschefin.

Heute werden die beiden größten Oppositionsparteien von Frauen geführt, und auch am Obersten Gerichtshof präsidiert eine Richterin. Aber in der Regierung sind regelmäßig strengreligiöse Parteien als Koalitionspartner vertreten, die ihre Partikularinteressen rücksichtslos durchsetzen. So haben sie sich als Staat im Staate etabliert.

Doch nun wird die Gefahr für jeden sichtbar, dass die Verfechter der jüdischen Theokratie zur ernsthaften Bedrohung für die Demokratie werden. Premierminister Benjamin Netanjahu, der mit den Stimmen der ultraorthodoxen Schas-Partei regiert, hat deshalb nun im Parlament dem "Phänomen" der Geschlechtertrennung den Kampf angesagt. "Randgruppen dürfen nicht unsere gemeinsamen Werte angreifen", sagte er.

Überdies wurde auch in der Armee per Erlass klargestellt, dass bei Feierstunden keinesfalls aus Rücksicht auf die Religiösen auf Frauen verzichtet wird. Mickey Gitzin gibt all das wieder ein wenig Hoffnung. "Wir werden vielleicht noch weitere Schlachten verlieren", sagt er, "aber am Ende werden wir gewinnen."

Eine größere Bewegung

Eine dieser Schlachten wird gerade mitten in Jerusalem vor der hell erleuchteten Fensterfront der Kolben Dance Company geschlagen. Jahrelang waren hier die Vorhänge zugezogen bei den Proben. Nun aber ist der Blick freigegeben auf die Ballett-Tänzerinnen, und Elissa Shugar hält das für eine "großartige Idee".

Die junge Tänzerin stammt aus Kanada, seit anderthalb Jahren gehört sie zur Kolben Company, und oft schon hat sie sich gefragt, wie lange sie das wohl noch aushält. Mindestens einmal am Tag, so erzählt sie, sei dieser ultraorthodoxe Sittenwächter vorbeigekommen, um nachzuschauen, ob die Vorhänge schön blickdicht verschlossen sind. "Wenn nur ein Spalt offen war, hat er gegen das Fenster gehämmert, als ob er es einschlagen wollte", sagt sie, "das war schon ziemlich beängstigend." Doch dann haben sie die Angst überwunden und sich gewehrt.

Erst haben sie ein Video von dem Zeloten vor ihrem Fenster gemacht und auf YouTube gestellt. Dann haben sie die Vorhänge aufgezogen. "Das war schon eine große Show", meint Elissa Shugar. Natürlich kam sogleich der fromme Wächter und verlangte nach dem geschlossenen Vorhang. "Wir haben gesagt, der bleibt jetzt offen - und seitdem ist er nicht mehr gekommen", sagt sie und wundert sich selbst, denn auch die alte Angst ist plötzlich weg. "Seit wir alles aufgemacht haben, fühle ich mich viel weniger bedroht als früher", erklärt sie, "wir sind ja jetzt Teil einer größeren Bewegung."

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Quelle:
SZ vom 21.12.2011/hü/infu/odg
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