Süddeutsche Zeitung

Kultur:Trostpflaster aus der Antike

Das 2300 Jahre alte Theater von Epidauros ist eine Wiege der abendländischen Kultur und war einst Teil einer Heilstätte für kranke Pilger. An diesem Samstag überträgt es live "Die Perser" von Aischylos - und sendet seine Heilkraft erstmals per Internet in die ganze Welt.

Von Christine Dössel

Wer je im antiken Theater von Epidauros war, weiß, dass es einer der schönsten Orte ist auf dieser Welt, ein Platz von geradezu magischer Spiritualität. Mit seinen steil ansteigenden Tribünen ruht es wie ein aufgespannter steinerner Fächer in einem Berghang, umgeben von majestätischen Zypressen, deren Duft die warme Luft erfüllt. Erbaut im 4. Jahrhundert vor Christus für 14 000 Zuschauer, gehörte das halbrunde Monumentaltheater (nicht zu verwechseln mit einem runden Amphitheater) zu einer weitläufigen Kur- und Kultstätte, die dem Heilgott Asklepios gewidmet war. In dieses Asklepieion mit seinen Bädern, Tempeln und Arzthäusern pilgerten chronisch Kranke, um in einer Art ganzheitlicher Therapie geheilt zu werden. Wobei zu dem Wellness- und Genesungskonzept auch Theater gehörte.

Ein solcher Trostpflaster- und Heileffekt soll, 2300 Jahre später, auch in der aktuellen Pandemie von Epidauros ausgehen, wenn an diesem Wochenende erstmals eine Vorstellung aus dem antiken Theater im Internet übertragen wird. Weltweit werden Zuschauer am Samstag um 20 Uhr die Gelegenheit haben, die Tragödie "Die Perser" von Aischylos zu sehen, live gestreamt aus Epidauros mit englischen Untertiteln (www.livefromepidaurus.gr). Es handelt sich um eine Produktion des griechischen Nationaltheaters Athen, inszeniert von dessen künstlerischem Direktor Dimitris Lignadis. Die Griechen haben es ja erfunden, das abendländische Theater. Und seither ist es nicht wieder untergegangen, allen Seuchen, Regietheaterexzessen und Kulturpessimisten zum Trotz. Was für ein symbolkräftiger Effekt, dass in einer Zeit, da Corona so viele Bühnen in Existenznot gestürzt und sämtliche Spielpläne durchkreuzt hat, das Theater sich nun sozusagen aus seinem Urgrund zu Wort meldet. Und dann auch noch mit den "Persern", der ältesten überlieferten Tragödie überhaupt. Nicht umsonst haben die Griechen auch das Pathos erfunden.

Das Streaming aus Epidauros kann mithin als ein ideelles Carepaket betrachtet werden, gesandt von der Wiege des Theaters - und der Demokratie - hinaus in die Welt. Damit sollen die Menschen, die wegen Corona dieses Jahr nicht nach Griechenland kommen können, die Gelegenheit erhalten, die einmalige Atmosphäre dieses Theaters zu genießen, sagte Regierungschef Kyriakos Mitsotakis. Die Live-Übertragung sei für ihn ein "Meilenstein".

In seiner Tragödie "Die Perser", uraufgeführt 472 v. Chr., schildert der griechische Dichter Aischylos die vollständige Niederlage des persischen Heeres unter dem anmaßenden König Xerxes in der Seeschlacht von Salamis. Ein Krieg, der das Ende des persischen Weltreiches bedeutete. Aischylos war selber bei der Schlacht dabei. Er schildert sie aber nicht triumphalistisch aus Sicht der Griechen, sondern, das ist das Besondere, aus persischer Perspektive. Es ist eine große Weh- und Kriegsanklage, auch eine Feier der attischen Demokratie. Wer sich darauf einlässt, kann gemäß der aristotelischen Poetik "éleos" und "phóbos" durchleben, Jammer und Schauder, und dadurch zur Katharsis gelangen. Katharsis aber bedeutet: Heilung.

Reinigung. Gesundung durch Theater.

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Quelle:
SZ vom 25.07.2020
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