Süddeutsche Zeitung

Deutschland: Neue Debatte um Atomausstieg:Merkel beruft Krisengipfel ein

Die Angst vor einer nuklearen Katastrophe in Japan befeuert den Streit über den deutschen Atomausstieg. SPD und Grüne stellen die Laufzeitverlängerung in Frage. Doch Umweltminister Röttgen findet die Diskussion deplatziert - und Kanzlerin Merkel lädt zum Krisentreffen.

Die Erdbeben-Katastrophe in Japan löst in Deutschland die Debatte über die Sicherheit von Atomkraftwerken neu aus: Bundeskanzlerin Angela Merkel, Außenminister Guido Westerwelle und Umweltminister Norbert Röttgen wollen am Samstagabend bei einem Krisentreffen die Konseqenzen aus dem Reaktorunfall im japanischen Fukushima erörten. Röttgen wandte sich gegen "politische Diskussionen" über die Sicherheit und Laufzeit. "Ich halte das für völlig deplaziert", sagte er.

Der rheinland-pfälzische Ministerpräsident Kurt Beck (SPD) verlangte eine Rückkehr zum Atomausstieg: "Ich will nicht mit einer so schlimmen Katastrophe Politik machen, aber gerade unter dem Eindruck eines solchen Risikos wünschen sich wohl alle vernünftigen Menschen ganz dringend, das es beim Ausstieg aus der nicht beherrschbaren Kernkraft bleibt", sagte er der Leipziger Volkszeitung.

Beck sagte, in Japan sehe man, welche Gefahr von der Kernkraft ausgehe. "Niemand bei uns in Deutschland kann verlässlich sagen, ein derartiges Unglück wie in Japan kann hier nicht passieren. Wir haben auch kritische Erdbebenzonen, beispielsweise entlang der Rheinschiene." Beck steht vor Landtagswahlen am 27. März.

Die Grünen-Fraktionsvorsitzende im Bundestag, Renate Künast, sieht durch die kritische Situation der japanischen Atomkraftwerke nach dem Erdbeben die Laufzeitverlängerung der deutschen Kraftwerke in Frage gestellt. Künast sagte, zwar sei Deutschland kein Erdbebengebiet. Dennoch zeige das Ereignis: "Wir beherrschen nicht die Natur, sondern die Natur herrscht über uns." Deshalb müsse die Frage gestellt werden, ob nicht die falschen Entscheidungen getroffen worden seien - zum Beispiel der Beschluss durch die schwarz-gelbe Bundesregierung, die Laufzeit um zwölf Jahre zu verlängern.

Atomkraftgegner: Russisch Roulette in Deutschland

Rebecca Harms, Fraktionschefin der Grünen im Europaparlament, warnt in der hannoverschen Neuen Presse vor einem Atom-GAU in Japan: "Man muss tatsächlich Angst vor einer Kernschmelze haben. Solch einen GAU hatten wir das letzte Mal in Tschernobyl - in Japan könnten die Schäden noch stärker werden." In diesem Zusammenhang äußerte die Europapolitikerin scharfe Kritik an dem deutschen EU-Kommissar Günther Oettinger (CDU). "Seitdem wir den Energiekommissar Günther Oettinger haben, wird die Atomkraft europaweit wieder forciert - und das im erbebengefährdeten Italien, Bulgarien und der Türkei."

"Die Zustände in den Atomkraftwerken in Japan nach dem Erdbeben und dem Tsunami zeigen einmal mehr, dass Atomkraftwerke niemals wirklich sicher sind", sagte SPD-Innenexperte Gerold Reichenbach. Zwar seien dort alle Reaktoren gegen Erdbeben ausgelegt, aber "trotzdem kommt es jetzt zu dramatischen Vorfällen." Auch die Sicherheitsversprechen des Bundes seien daher Augenwischerei.

"Die tragischen Ereignisse in Japan belegen die Unberechenbarkeit der Atomkraft", sagte SPD-Bundestagsfraktionsvizechef Ulrich Kelber der Neuen Osnabrücker Zeitung. Auch einige deutsche Reaktoren stünden in Gebieten, in denen es zu Erdbeben kommen könnte - weit größer sei hierzulande aber die Gefahr eines Terroranschlags. "Die Kuppeln der sieben ältesten deutschen Atomkraftwerke sind nicht ausreichend gegen gezielte Angriffe mit einem Passagierflugzeug geschützt", sagte Kelber. Diese Risikoreaktoren wie Biblis, Isar oder Neckarwestheim gehörten unverzüglich vom Netz: "Es wäre unverantwortlich, noch über Jahre massive Gefahren in dicht besiedelten Regionen Deutschlands in Kauf zu nehmen", zumal es für den Weiterbetrieb keinen triftigen Grund gebe. "Wenn sie die Kraftwerke morgen abschalten, steigt weder der Strompreis, noch wird die Stromversorgung gefährdet."

Selbst aus den eigenen Reihen kommt Kritik an der Atompolitik der Bundesregierung: "Es wird der Atomindustrie gestattet, mit unseren Lebens- und Zukunftschancen Russisches Roulett zu spielen", schreibt der Bundesverband Christliche Demokraten gegen Atomkraft (CDAK) in einer Mitteilung. "Auch in Deutschland werden die Risiken und Folgekosten der Atomkraftwerke von EnBW, E.ON, RWE und Vattenfall auf unbeteiligte Dritte abgewälzt." Zudem sei der Schutz der Bürger "augenscheinlich nicht wirklich gewollt, sonst würden die Pläne zur Evakuierung in den offiziellen Amtsblättern der Kommunen und Landkreise veröffentlicht".

Auch die Deutsche Umwelthilfe (DUH) fordert einen Ausstieg aus der Atomkraft in Deutschland: "Diese Technik ist nicht beherrschbar", schreibt die Umweltorganisation in einer Stellungnahme. Sie drängt die Bundesregierung, "die sieben ältesten Reaktorblöcke unverzüglich stillzulegen". Die Regierung in Stuttgart müsse die sofortige Abschaltung des Atomkraftwerks Neckarwestheim I verfügen, heißt es in der Mitteilung weiter.

Die Anti-Atom-Organisation "ausgestrahlt" wies auf regelmäßige Erdbeben in Süddeutschland hin. Das AKW-Neckarwestheim sei besonders gefährdet, da es auf brüchigem Kalkgestein stehe. Für das Wochenende hatte die Organisation bereits vor einiger Zeit zu einer Demonstration für die Stilllegung von Neckarwestheim aufgerufen. Der Reaktor ist einer derjenigen, deren bevorstehende Abschaltung durch die von der Bundesregierung beschlossene Laufzeitverlängerung um acht Jahre verschoben werden soll.

Geplant ist eine Menschenkette zwischen dem Atomkraftwerk Neckarwestheim I und der Stuttgarter Regierungszentrale von Ministerpräsident Stefan Mappus (CDU). Die 45 Kilometer lange Kette soll mit bis zu 40.000 Menschen gebildet werden. Der Protest solle die Anti-Atomkraft-Bewegung stärken, sagte Grünen-Parteivorsitzende Claudia Roth. "Zwei Wochen vor der Landtagswahl wollen wir deutlich machen, dass diese Wahl auch eine Abstimmung über die künftige Energiepolitik ist."

Umweltministerium sieht keine Atom-Gefahr für Deutschland

Derweil schließt Bundesumweltminister Norbert Röttgen (CDU) eine Gefährdung Deutschlands durch das beschädigte Atomkraftwerk in Japan "praktisch aus". Diese liege an der großen Entfernung und der Wind- und Wetterlage, so Röttgen. In Japan wehe der Wind vom Festland auf den Pazifik und nicht in westliche Richtung. Deutschland habe Japan alle denkbaren Hilfen angeboten. Die Bundesregierung stehe in ständigem Kontakt mit den internationalen Behörden.

Beim Streit um längere Laufzeiten für die deutschen Atomkraftwerke hat das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe das letzte Wort: Vor wenigen Tagen haben fünf SPD-regierte Bundesländer eine Verfassungsklage gegen damit verbundene Mehrbelastungen für Landesbehörden eingereichen, gefolgt von einer weiteren Klage der Bundestagsfraktionen von SPD und Grünen.

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