Kevin Kühnert:Ein gar nicht so heimlicher Star

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Kevin Kühnert hat oft bewiesen, dass er die Attacke virtuos beherrscht. Beim Parteitag muss er sich in einer anderen Rolle beweisen. (Foto: dpa)

Kevin Kühnert ist für viele SPD-Mitglieder der Hoffnungsträger ihrer Partei - und wird entsprechend umjubelt. Doch Applaus kann auch trügerisch sein.

Von Thomas Jordan, Berlin

"Oaaah" ruft Kevin Kühnert. Für einen Moment schaut der 30-Jährige von seinem Smartphone auf. Noch bevor die Delegierten wissen, wieviel Prozent Norbert Walter-Borjans bei der Wahl zum Parteivorsitzenden gleich erhalten wird, hat es Kühnert schon für sich ausgerechnet. Knapp 90 Prozent für "Nowabo" wie Norbert Walter-Borjans von vielen hier genannt wird. Das ist ein großer Erfolg für die gespaltene Partei. Es ist auch der Erfolg von Kevin Kühnert.

Er weiß das. Mit seinen Jusos hat er seit Monaten für das Duo aus Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken getrommelt. Für einen ganz kurzen Moment lässt er seinen Gefühlen freien Lauf - "Oaaah". Kühnert weiß aber auch, dass ihm die eigentliche Herausforderung an diesem Freitagabend im City-Cube in Berlin, wo die SPD ihren Parteitag abhält, noch bevorsteht.

Es wirkt, als habe er sich eine Art Schildkrötenstrategie für seinen bisher größten Coup überlegt. Sein Panzer gibt nur selten den Blick darauf frei, was Kühnert wirklich zu bewegen scheint. Schon nach wenigen Sekunden begibt er sich wieder in die Körperhaltung, die an diesem Freitag für ihn typisch ist. Mit ausdruckslosem Gesicht sitzt er, leicht nach vorne übergebeugt, auf seinem Platz bei den Berliner Delegierten, vom Präsidium gesehen im ganz linken Block. Man könnte es auch eine Art taktisches Stillhalten nennen. Denn Kühnert, der bewiesen hat, dass er auch die Attacke virtuos beherrscht, muss sich diesmal in einer anderen Rolle beweisen. Er will den größten Sprung seiner bisherigen Karriere machen, Vizechef der SPD werden. Und damit Teil jenes Parteiestablishments, das er seit Jahren heftig kritisiert. Für Kühnert ist das ein gewaltiger Spagat. Doch Kühnert wird am Freitagabend nicht nur der Spagat gelungen sein, sondern sogar ein fulminanter Salto.

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Gerade hat Bundesfamilienministerin Franziska Giffey, eine erklärte Befürworterin der großen Koalition, gefordert, vom Parteitag müsse Verlässlichkeit ausgehen. So weit, so erwartbar. Dann kommt Kühnert. Bei dieser ersten Rede ist der Applaus für Kühnert im hinteren Bereich, dort wo die einfachen Parteimitglieder sitzen, deutlich größer als im vorderen Bereich, bei den 600 Delegierten. Kühnert steht schräg nach vorne gebeugt am Pult, er umgreift es mit beiden Händen. Der 30-Jährige wirkt wie zum Sprung bereit. Und dann legt er los. "Ich nehme nicht wahr, dass irgendjemand in der sozialdemokratischen Partei eine Oppositionssehnsucht in sich trägt", sagt Kühnert.

Zwei Tage zuvor hatte er in einer Talkshow noch betont, an seiner Ablehnung der großen Koalition habe sich nichts geändert. Es ist schon jetzt ein gewaltiger Spagat, den Kühnert da hinlegt. Es geht aber noch weiter. Kurz darauf ruft er die Delegierten dazu auf, den Leitantrag des Parteivorstands zu unterstützen, dieses Dokument des Kompromisses. Und dann sagt Kühnert den neuen Parteivorsitzenden vor sechshundert Delegierten, was er für diese Unterstützung haben will. Er vertraue darauf, sagt Kühnert, dass sie wissen, mit welcher Botschaft sie von den Mitgliedern ins Amt gewählt worden seien: "Die Botschaft war: Kein Weiter so in Inhalten, aber auch im Stil", sagt der Juso-Chef. Für einen kurzen Moment lässt er seinen Panzer fallen: Kühnert zeigt sich als eine Art Strippenzieher der SPD. Schon zuvor hatte es so einen Moment gegeben: Als Norbert Walter-Borjans in seiner Rede einen "Linksschwenk" für die Partei ankündigte, schob Kühnert kurz die Unterlippe über die Oberlippe und nickte. Es sieht aus aus wie ein "na also, geht doch".

Gleich darauf schließt sich der Panzer und Kühnert setzt wieder sein ausdrucksloses Gesicht auf, als er zu seinem Platz in der viertletzten Reihe zurückgeht. In diesem Modus ist ein angedeutetes Schmunzeln das höchste der Gefühle, das er sich erlaubt. Es ist auch das Gesicht, das alle diejenigen präsentiert bekommen, die an diesem Freitag etwas von Kühnert wollen. Und das sind viele. Kühnert ist der gar nicht so heimliche Star auf diesem Parteitag. Immer wieder tauchen Menschen an seinem Platz auf, die ein Selfie mit ihm machen wollen.

Eine Influencerin bittet um ein kurzes Gespräch. Als Kühnert sich aus seiner Reihe herausschält und vor ihr steht, strahlt sie ganz verzückt. Nicht selten sind es aber auch die Delegierten selbst, die ein Erinnerungsfoto mit "dem Kevin" machen wollen. "Ich finde ihn toll", sagt Hannelore Baur. Die Delegierte sitzt beim Parteitag noch einmal drei Reihen hinter Kevin Kühnert. Baur möchte Bürgermeisterin einer kleinen bayerischen Gemeinde werden. Als Kühnert für ein Interview im Gang neben ihrer Reihe auftaucht, lädt sie ihn zu ihrer Erstwählerparty im Frühjahr ein. Baur lässt sich dann noch seine E-Mailadresse geben und raunt dem Dreißigjährigen etwas zu. Es muss etwas sehr Schmeichelhaftes gewesen sein. Kühnert wird kurz ein bisschen rot, dann muss er zurück zu seinem Platz. Der Regierende Bürgermeister von Berlin, Michael Müller, wartet dort schon auf ihn. Es ist neben allen inhaltlichen Fragen auch der Spagat zwischen Provinz und Bundeshauptstadt, zwischen Basis und bundespolitischer Bühne, den Kühnert an diesem Freitag bewältigen muss, um Parteivize zu werden.

Kurz vor sieben Uhr am Abend wird es dann hektisch in der viertletzten Reihe des SPD-Parteitags. Kevin Kühnert sitzt an seinem Platz und schreibt seine Bewerbungsrede für das Amt des Stellvertretenden Parteichefs. Er macht das handschriftlich auf weißem DIN A4-Papier. Die Hand, mit der er den Stift führt, zittert nicht gerade wenig, als sie über das Papier fliegt. Noch hält Hubertus Heil seine Bewerbungsrede für den Posten des stellvertretenden Parteichefs. Der Mann, mit dem er sich beinahe ein Duell hätte liefern müssen, hätte der Parteivorstand nicht zuvor beschließen lassen, die Anzahl der Stellvertreterposten statt auf drei nur auf fünf zu reduzieren. Aber die Aufmerksamkeit im Saal verschiebt sich sekündlich immer stärker vom Arbeitsminister hin zur viertletzten Reihe. Die Schlange der Kameraleute und Fotografen, die Kühnert gleich bei seinem Gang zum Rednerpult aufnehmen wollen, reicht gute zehn Meter weit, bis zu den Tischen der Delegation aus Braunschweig.

"Gehen wir zum Arzt und überzeugen ihn von unseren Visionen"

Und dann kommt Kühnert. Es ist, man kann es durchaus so sagen, eine fulminante Rede, mit der sich der 30-Jährige am Freitagabend um den Posten des stellvertretenden Parteichefs bewirbt. Sie schlägt den ganz großen Bogen: Kühnert beginnt mit den Herausforderungen, die eine immer stärker individualisierte Gesellschaft für die SPD darstellt (viele, die aber laut Kühnert lösbar sind), enthält dann eine rauflustige Showeinlage mit einer roten Socke, in der er allen Kritikern der SPD indirekt vorwirft, nur von eigenen Defiziten ablenken zu wollen, und landet - mit Zwischenstopp bei Helmut Schmidt - am Ende schließlich bei Kevin Kühnert selbst.

Mehrmals muss der Bewerber seine Rede unterbrechen, der Jubel der Delegierten ist so laut, dass man ihn ansonsten nicht mehr verstünde. Spätestens als der Juso-Chef Visionen für die SPD in Aussicht stellt und in Abwandlung des geflügelten Wortes von Helmut Schmidt, fordert: "Gehen wir zum Arzt und überzeugen ihn von unseren Visionen", kennen die Delegierten kein Halten mehr und stehen spontan von ihren Plätzen auf. Standing Ovations für den Juso-Chef, der in den letzten Monaten, auch parteiintern, als Spalter kritisiert wurde.

Als Kühnert das Rednerpult verlässt und zu seinem Platz zurückkehrt, kommt es unter den Kameraleuten zu handfesten Rangeleien um die beste Perspektive auf den 30-Jährigen. Als eine gute Stunde später das Ergebnis zur Wahl der Parteivizes bekannt gegeben wird, zeigt sich allerdings, dass fulminanter Applaus auch trügerisch sein kann. Der Applaus, er hatte wohl weniger dem künftigen Parteivize Kühnert gegolten. Der holt mit 70,4 Prozent nur das zweitschlechteste Ergebnis der Stimmen. Der Applaus, er hatte dem Hoffnungsträger Kevin Kühnert gegolten und der Sehnsucht der Partei nach Aufbruch und neuem Mut. Kühnert hat ihr all das für einen Moment gegeben. Wer ihn an diesem Freitag erlebt hat, kann sich kaum vorstellen, dass Kühnert mit dem Stellvertreterposten am Ziel seiner politischen Karriere angekommen ist.

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