Süddeutsche Zeitung

Demonstrationen auf Kuba:Revolte gegen die Revolution

In Kuba brechen die größten Massenproteste seit Jahrzehnten aus. Die Not auf der Insel ist groß - und die sozialistische Regierung nervös.

Von Christoph Gurk, Buenos Aires

Es waren Szenen, wie man sie lange nicht gesehen hatte in Kuba: Hunderte Menschen versammelten sich am Sonntag auf den Straßen Havannas und in vielen anderen Städten des Landes zu Protesten. Sie richteten sich unter anderem gegen zu hohe Lebensmittelpreise, die langen Schlangen vor den Läden, fehlende Medikamente und Stromausfälle. Gleichzeitig kritisierten die Demonstranten die sozialistische Regierung der Insel. Videos zeigen wütende Kubaner, die immer wieder "Libertad!" rufen, Freiheit.

Beobachter sprechen von den größten Massenprotesten, die es seit Jahrzehnten in Kuba gegeben hat. Dies zeigt, wie dramatisch die Lage mittlerweile auf der Insel ist. Denn auf der einen Seite sind die Kubaner Mangel durchaus gewohnt: Seit Jahrzehnten gilt ein US-Embargo, das unter Ex-Präsident Donald Trump weiter verschärft wurde. Es verhindert, dass Güter aller Art auf die Insel gelangen, angefangen von Ersatzteilen für Autos bis hin zu Medikamenten.

Kuba hat aus der Not eine Tugend gemacht, vieles wird heute auf der Insel selbst produziert, unter anderem auch mehrere Covid-19-Impfstoffe. Dazu haben sich viele Kubaner zu Meistern im Reparieren und Improvisieren entwickelt. Alte Maschinen werden geflickt so lange es geht, und wenn es sein muss, schweißt man aus alten Fahrrädern und Metallplatten eben einen Pflug zusammen.

Viele Kubaner waren zwar genervt von alledem, aber andere weiterhin stolz auf die Revolution, die in den fünfziger Jahren Fidel Castros Sozialisten an die Macht brachte. In Teilen der Bevölkerung ist auch der Rückhalt für die aktuelle Regierung groß, genauso wie die Ablehnung der USA und des angeblich imperialistischen Westens und des Kapitalismus. Die sozialistische Führung unterstützte diese Grundhaltung mit allen Mitteln, angefangen bei patriotischem Schulunterricht bis hin zur Verhaftung von Oppositionellen.

Die Not durch die Corona-Pandemie ist wohl Auslöser der Proteste

Dass nun die Stimmung in Teilen der Bevölkerung zu kippen droht, liegt vermutlich an der Pandemie. Kuba konnte zwar dank seines gut ausgebauten Ärztenetzes den Covid-19-Erreger lange unter Kontrolle halten. Nun aber steigen die Fallzahlen stark an. Dazu blieben die Touristen, die sonst in Massen auf die Insel strömen, um Sonne, Strand und Salsa zu genießen, weitestgehend aus. Hotels verwaisten, und in den Restaurants standen die Tische leer, vielen Menschen brach ihr Einkommen weg - und dem Staat eine der wichtigsten Quellen für Devisen.

Immer länger wurden in den vergangenen Monaten die Schlangen vor den Läden, immer knapper selbst Grundnahrungsmittel oder Benzin. Früher hätten die Kubaner diese alltägliche Not vielleicht stoisch ertragen. Eine freie Presse gibt es auf der Insel praktisch nicht, Proteste wurden meist im Keim erstickt. Seit ein paar Jahren aber ist das Internet flächendeckend verfügbar. Im Netz sammelt sich nun der Unmut über den Mangel auf der einen Seite und die sozialistische Führung auf der anderen.

Videos zirkulieren von Kindern und Enkeln der Parteigranden in dicken Autos. Dazu ein Musik-Clip mit dem Namen "Patria y Vida", was auf Deutsch so viel wie "Heimat und Leben" bedeutet; eine Anspielung auf den alten revolutionären Leitspruch "Patria o Muerte", Heimat oder Tod. Der Song handelt vom Hunger und der Unterernährung auf der Insel und davon, dass viele junge Kubaner nur einen Ausweg aus der Misere sehen: die Flucht übers Meer.

Mehrere Millionen Mal wurde "Patria y Vida" geklickt, der Regierung ist das Lied ein Dorn im Auge, und die Urheber des Songs wurden in den vergangenen Monaten wiederholt von der Polizei abgeführt und verhaftet. Längst aber haben sich weitere Künstler angeschlossen, auch vom Ausland aus unterstützen sie den Protest.

Der Präsident fordert dazu auf, die Revolution zu verteidigen

Die Regierung in Havanna ist nervös. Noch am Sonntag fuhr Präsident Miguel Díaz-Canel nach San Antonio de los Baños, einen Vorort von Havanna, in dem die Proteste laut Berichten von Augenzeugen besonders groß waren. Im Staatsfernsehen richtete sich Díaz-Canel danach an die Nation. Die Proteste seien initiiert worden von den USA, sagte er. Kuba werde seine Souveränität und Unabhängigkeit aber nicht aufgeben: "Wenn sie die Revolution bezwingen wollen, müssen sie über unsere Leichen gehen." Er rief seine Landsleute auf, die Revolution zu verteidigen.

Dennoch kam es schon am Sonntagabend wieder zu Protesten gegen die Regierung. Videos zeigten, wie die Polizei einschritt und Demonstranten verhaftete. Mittlerweile hätten die Behörden das Internet und teilweise sogar den Strom abgestellt, beklagen kubanische Aktivisten. So solle verhindert werden, dass sich die Proteste weiter ausbreiten.

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