Kuba-Krise 1962:Die heißen Tage im Oktober

Mit der Kuba-Krise erreichte der Kalte Krieg einen seiner Höhepunkte. Ein Buch zeigt, welches Glück die Welt hatte, dass damals John F. Kennedy US-Präsident war - und nicht George W. Bush.

Richard Holbrooke

Jedes Buch über die Kuba-Krise muss sich der Prüfung stellen: Ist es nur eine weitere der zahlreichen Darstellungen oder verbessert es das Verständnis der Ereignisse? Michael Dobbs, Reporter der Washington Post, hat den Test bravourös bestanden.

John F. Kennedy, dpa

Entwarnung: Nach Beilegung der Kuba-Krise wandte US-Präsident John F. Kennedy sich in einer Fernsehansprache an die Nation.

(Foto: Foto: dpa)

Er konzentriert sich auf die Aktionen des amerikanischen, sowjetischen und kubanischen Militärs in den Oktobertagen 1962. Das Buch liefert nüchterne, neue Informationen über die Konfrontation der Atom-Supermächte und ist von zeitgeschichtlicher Relevanz.

Dobbs vermittelt seine zentrale These prägnant, indem er den 25. Oktober, den 10. Tag der Krise, so beschreibt: "Anfangs reagierten die beiden Führer kriegerisch. Kennedy war für einen Luftangriff, Chruschtschow überlegte ernsthaft, seinen Befehlshabern in Kuba den Einsatz von Atomwaffen zu erlauben."

Nach qualvollem Nachdenken entschlossen sich dann beide, einen Ausweg ohne Waffen zu finden. Doch es war ihnen praktisch unmöglich, offen miteinander zu kommunizieren. Beide wussten sehr wenig über die Pläne und Motive der jeweils anderen Seite und vermuteten das Schlimmste.

Der Schwarze Samstag

Botschaften brauchten einen halben Tag, um zugestellt zu werden. Es war nicht länger die Frage, ob die Führer der beiden Supermächte Krieg wollten - sondern, ob sie die Macht hatten, ihn zu verhindern.

Zehn Tage zuvor hatte ein U-2-Spionageflugzeug durch Luftaufnahmen bewiesen, dass die Sowjets heimlich Nuklear-Raketen in Kuba stationierten. Im Buch "High Noon in the Cold War", das vor vier Jahren veröffentlicht wurde, vergleicht Max Frankel diese unbesonnene Aktion mit dem Trojanischen Pferd. Nur wenige Stunden nach der Entdeckung entschied Kennedy: Die USA werden nicht tolerieren, dass die Raketen auf Kuba bleiben.

In der Woche darauf tagte eine kleine Gruppe von Regierungsmitarbeitern unter absoluter Geheimhaltung; sie ist in die Geschichte eingegangen als das Executive Committee oder ExComm. Die meisten Berichte konzentrieren sich auf die dramatischen Debatten im Kabinett-Raum, in denen Amerikas Führer ihre Positionen ständig änderten, während sie verzweifelt nach der richtigen Mischung aus diplomatischem und militärischem Druck suchten.

Dobbs fertigt diese erste Woche mit nur 54 Seiten ab. Er konzentriert sich stattdessen auf den 27. Oktober, der allein fast die Hälfte des Buches einnimmt. Es war der "Schwarze Samstag", der düsterste Tag des Kalten Krieges. Eine sowjetische Rakete schoss auf Kuba eine U-2 ab, wobei der Pilot ums Leben kam.

Die Vereinigten Stabschefs waren für eine schnelle militärische Vergeltung; Castro schrieb Chruschtschow einen erregten emotionalen Brief aus Angst vor einer drohenden amerikanischen Invasion, und Chruschtschow schrieb einen zweiten Brief an Kennedy, der bei weitem härter ausfiel als ein Brief zuvor.

Tief in die Sümpfe Kubas

In dieser Nacht gingen die Männer in Washington schlafen, ohne zu wissen, ob sie noch aufwachen würden (wie mir der damalige Außenminister Dean Rusk später erzählte); die Frauen debattierten darüber, ob sie in Washington bei ihren Ehemännern bleiben oder sich auf dem Land in Sicherheit bringen sollten. (Fast alle blieben, auch Jackie Kennedy).

Es schien, als hätte das Ausmaß der Krise die beiden Staatschefs verändert. Doch während sie nach friedlichen Auswegen ohne Gesichtsverlust suchten, bereiteten sich die Militärmaschinerien auf den Krieg vor.

Welche Besonderheiten Dobbs ans Licht bringt, lesen Sie auf Seite zwei.

Die heißen Tage im Oktober

Dobbs ist da am besten, wo er die Verfehlungen, Missverständnisse und unautorisierten Aktionen rekonstruiert, die fast zu einem unbeabsichtigten Krieg geführt hätten. Er folgt den geheimen CIA-Agenten tief in Kubas Sümpfe, wie sie versuchen, eine Kupfermine zu sabotieren - ein offiziell genehmigter Plan.

Nikita Chruschtschow, dpa

Briefe an den Feind: Durch zum Teil geheime Zugeständnisse bewegten die USA den sowjetischen Partei- und Regierungschef Nikita Chruschtschow zum Abzug der Raketen von Kuba.

(Foto: Foto: dpa)

Er zeichnet den Flug eines U-2-Piloten nach: Chuck Maultsby geriet mehrere hundert Meilen in den sowjetischen Luftraum: Nordlichter hatten ihn in die Irre geführt. Irgendwie entkam er, ohne eine sowjetische Reaktion auszulösen. ("Es gibt immer einen Hurensohn, der nicht durchblickt", notierte Kennedy mit seinem charakteristischen Sarkasmus).

Dobbs beschreibt sowjetische Kommandanten auf Kuba, die im Falle einer Bedrohung auch ohne Befehl aus Moskau eigenmächtig Raketen auf die Vereinigten Staaten abgefeuert hätten. In Washington drängten die Stabschefs, unter ihnen Titanen des Zweiten Weltkriegs, nach Taten.

Streit zwischen Militärs und Politikern

So etwa General Curtis LeMay, der 3000 Nuklearwaffen unter seinem Kommando hatte. Der brutale, zigarrenkauende Chef der US-Luftwaffe fuhr Kennedy an, seine Kuba-Blockade sei "fast so schlimm wie das Appeasement von München".

In einem dramatischen Wortgefecht im Pentagon sagte der Chef der Marine-Operationen zu Verteidigungsminister Robert McNamara, die Navy werde jede Auseinandersetzung mit den Sowjets entsprechend ihrem seit langem erprobten Vorgehen führen und habe keine Anleitung durch Zivilisten nötig. Wütend legte McNamara neue Verfahren fest, die ihm und dem Präsidenten größere Handlungsfreiheit gaben - so dachten sie.

Nun, fast 40 Jahre später, gibt es keine Kontroverse mehr über die kritischste Konferenz während dieser Krise. Sie begann um 20.05 Uhr am Schwarzen Samstag. Bobby Kennedy bestellte den sowjetischen Botschafter Anatoli Dobrynin in sein Büro ein. Dies geschah auf Weisung seines Bruders, des Präsidenten.

Bobby Kennedy sagte Dobrynin, dass die Krise die Stunde der Wahrheit erreicht habe. "Wir sind dabei, bestimmte Entscheidungen innerhalb der nächsten zwölf, vielleicht 24 Stunden zu treffen", sagte er. Das US-Militär fordere Vergeltung, Grund sei der Abschuss der U-2 an diesem Tag. Nicht nur die Generäle forderten, das "Feuer mit Feuer" zu beantworten.

Bobby Kennedy, Ted Sorensen und andere entwarfen auch einen geschickt formulierten Brief an Chruschtschow. Zusammen mit dem Ergebnis der Konferenz führte dies zu der sowjetischen Ankündigung, am nächsten Tag, die Raketen von Kuba zu entfernen.

Leckerbissen für Geschichtsfans

Doch Drohungen waren nur ein Teil von Kennedys brillant geplantem Vorgehen. Er gab Chruschtschow auch sein Ehrenwort: Die Vereinigten Staaten würden nicht noch einmal eine Invasion auf Kuba unternehmen. Das Angebot war für Washington bedeutungslos, doch politisch wertvoll für Chruschtschow und sein Verhältnis zu Castro.

Und da war noch ein Geheimnis, das beide Seiten jahrelang gehütet hatten: Die Sache mit den Jupiter-Raketen in der Türkei. Die Sowjets hatten angeboten, sie würden ihre Raketen von Kuba entfernen, wenn die Vereinigten Staaten ihre 15 Mittelstrecken-Raketen aus der Türkei abziehen würden.

Die Raketen waren 1959 stationiert worden. Sie waren schon veraltet. Kennedy hatte bereits vor der Kuba-Krise ihren Abbau verlangt, doch nichts war passiert. Kennedy war mehr als bereit, sie zu demontieren, aber er wollte in der Öffentlichkeit den Eindruck vermeiden, dass er einen Handel mit Moskau eingegangen sei.

Dobrynin sprach Bobby Kennedy auf die Jupiter-Raketen an. Der antwortete, sie seien kein unüberwindbares Hindernis - doch dürften sie niemals mit dem Abzug der sowjetischen Raketen in Verbindung gebracht werden. Außerdem müssten vor ihrem Abbau einige Monate vergehen. Erst dieser "Kein-Deal-Deal" ermöglichte eine Lösung.

In "Thirteen Days", seiner posthum veröffentlichten Chronik der Krise, formulierte Bobby Kennedy sorgfältig seine Darstellung des Treffens mit Dobrynin, um jeden Hinweis auf einen Türkei-Deal zu tilgen. Da viele Leute schnell die Wahrheit vermuteten, erscheint es heute überraschend, dass die Kennedys diesen Deal vertuschen wollten. Aber 1962, kurz vor den Kongresswahlen, wollte Kennedy nicht schwach erscheinen.

Dobbs Recherche enthält einige Leckerbissen für Geschichtsfans. Mein Favorit ist die Entlarvung des berühmten geheimen Drahtes zwischen dem ABC-Reporter John Scali und Aleksandr Feklisow, dem KGB-Residenten. Die Kennedy-Regierung maß dieser Verbindung große Bedeutung zu. Sie investierte viel Zeit für eine Nachricht, die Scali an Feklisow übermitteln sollte.

Aufgrund umfassender Analysen und Interviews glaubt Dobbs: Der "geheime Draht" war nichts weiter als die Bemühungen eines ehrgeizigen Spions, Informationen zu seinen Chefs nach Moskau zu schicken - und er war die Selbstvermarktung eines ehrgeizigen Journalisten, der seine Treffen mit dem KGB-Agenten zu einer Legende aufblies. Vielleicht wurde er deshalb später US-Botschafter bei den Vereinten Nationen.

Dobbs, einer der gründlichsten Journalisten in Washington, schlussfolgert: Es gibt keinen Beweis, dass diese KGB-Information mit Scalis Nachricht "irgendeine Rolle in den Entscheidungen des Kremls während der Krise gespielt hat oder von Chruschtschow auch nur gelesen wurde". Dies sei ein "klassisches Beispiel eines Missverständnisses". Das Scali-Feklisow-Treffen sei ein Teil des Mythos um die Kuba-Krise.

"One Minute to Midnight" ist voller solcher Einblicke. Sie werden die Sichtweise der Experten ändern und die jüngeren Leser informieren. Wer sich nicht mit der ganzen Geschichte auskennt, sollte das Buch in Verbindung mit Frankels kurzem und elegantem Überblick lesen. Für die anderen steht Dobbs Bericht für sich.

Es ist kaum möglich, beim Lesen nicht zu denken: Was wäre passiert, wenn die gegenwärtige Regierung mit dieser Situation konfrontiert gewesen wäre? Mit echten Massenvernichtungswaffen, nur 90 Meilen von Florida entfernt. Mit einem Pentagon, das auf Luftangriffe und eine Invasion drängt.

Mit Drohbriefen vom Führer einer Supermacht. Und nicht zuletzt mit Senatoren, die den Präsidenten "schwach" nennen - nur ein paar Wochen vor einer Kongresswahl. Geschichte lässt sich nicht alternativ durchspielen.

Doch ein Gedanke ist nicht abwegig: Das Team, das den Irak besetzt hat, hätte Kuba angegriffen. Und wenn Dobbs richtig liegt, hätten Kuba und die Sowjetunion zurückgeschlagen, vielleicht mit einigen der Raketen, die schon vor Ort waren.

Man kann nur sagen: Unsere Nation hatte extremes Glück, dass Kennedy 1962 ihr Präsident war. Wie alle Präsidenten machte er Fehler. Doch als die Hürden unüberwindlich schienen, wuchs er über sich hinaus, wie kein anderer Präsident in den vergangenen 60 Jahren. Er setzte sich ein klares Ziel, dann suchte er geschickt nach einem Weg, es zu erreichen. Entgegen aller Forderungen der Falken, die in seiner Regierung saßen.

MICHAEL DOBBS: One minute to midnight - Kennedy, Khrushchev, and Castro on the Brink of Nuclear War. Knopf Verlag, New York 2008. 448 S., 28,95 Dollar.

(Richard Holbrooke, 67, ist ein amerikanischer Berufsdiplomat, der unter anderem Botschafter in Deutschland und bei den Vereinten Nationen war.)

Übersetzung: Merle Schmalenbach

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