Kuba:Schon wieder ein Exodus

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Teure Last: Ein Brotverkäufer trägt seine Ware über das Pflaster von Trinidad an der Südküste Kubas. (Foto: Yamil Lage/AFP)

Es ist der größte Schwund seit den Anfängen von Fidel Castros Revolution: Mehr als eine Million Kubaner haben seit 2022 die sozialistische Insel verlassen. Es ist die Not, die sie wegtreibt – und die verlorene Hoffnung.

Von Benedikt Peters

Der Mann sitzt in einem Wohnzimmer in Havanna und wirkt wild entschlossen. „Entweder komme ich an oder ich sterbe“, sagt der Kubaner im Interview mit einem Fernsehsender. Es sei in Ordnung für ihn, wenn er auf seiner Flucht in Richtung USA ums Leben komme. „Aber ich werde nicht als alter Mann sterben, der in Kuba für sein Essen Schlange stehen muss.“ Das Video stammt vom vergangenen Herbst. Ob der Mann, ein junger Medizinstudent, angekommen ist? Man weiß es nicht.

Obwohl die Flucht in die USA für viele Kubaner gefährlich ist, ob per Boot übers Meer oder per Flug nach Mittelamerika und dann durchs mexikanische Grenzgebiet, fassen immer mehr denselben Plan wie der junge Mann und setzen ihn auch um. Selbst für kubanische Verhältnisse ist der Exodus, den Kubas Statistikbehörde in dieser Woche beziffert, bemerkenswert: Von Anfang 2022 bis Ende 2023 ist die Bevölkerung demnach um mehr als eine Million auf etwa zehn Millionen Menschen geschrumpft – das entspricht einem Schwund von etwa zehn Prozent. Der kubanische Ökonom Juan Carlos Albizu-Campos hat errechnet, dass der Rückgang sogar noch größer ist. Seiner Studie zufolge leben nur noch 8,6 Millionen in Kuba.

Es ist wieder eine Abstimmung mit den Füßen

Noch nie seit der Auswanderungswelle nach der sozialistischen Revolution Fidel Castros 1959 hat es einen solchen Rückgang gegeben. Nicht während der sogenannten Bootskrise von Mariel 1980 und auch nicht nach dem „Maleconazo“-Volkaufstand 1994, als die Regierung notgedrungen Zehntausende unzufriedener Kubanern ausreisen lassen musste.

Die Regierung begründet den Bevölkerungsschwund vor allem mit einer hohen Zahl von Todesfällen und einer niedrigen Geburtenrate. Wahrscheinlicher aber ist, dass sich in Kuba einmal wieder eine Abstimmung mit den Füßen über die politische und wirtschaftliche Lage auf der Insel vollzieht. So schlimm wie Anfang der 1990er-Jahre, als die Menschen nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und dem Wegfall der Wirtschaftshilfe Hunger litten, werde es nie mehr werden – daran hatten viele Kubaner lange geglaubt. Doch sie irrten.

Einzelne Lebensmittel waren auf der Insel immer mal wieder knapp, in den vergangenen zwei Jahren aber hat der Mangel mehreren Medienberichten zufolge die gleichen Ausmaße wie in den 1990ern angenommen, vielleicht sogar übertroffen. Selbst in der Hauptstadt Havanna fällt ständig der Strom aus, und die kubanische Wirtschaft schafft es längst nicht mehr, genug Lebensmittel zu produzieren. Es fehlt an Eiern, Milch, Brot und selbst an Zucker, obwohl Kuba früher selbst weite Teile der Welt damit belieferte. Auf 350 000 Tonnen im Jahr 2023 ist die Zuckerernte nach offiziellen Angaben eingebrochen, 1988 lag sie noch bei 8,1 Millionen Tonnen.

Eine Palette Eier – fast unerschwinglich

Immer mehr Lebensmittel müssen importiert werden, die Preise sind teilweise absurd gestiegen: Eine Palette Eier koste inzwischen bis zu 3500 Peso, beschweren sich Menschen in den sozialen Netzwerken – das entspricht etwa dem Anderthalbfachen des monatlichen Mindestlohns eines kubanischen Arbeiters. Solche Mondpreise können nur Kubaner bezahlen, die von Verwandten und Freunden aus dem Ausland Geld geschickt bekommen – oder jene, die ihr Geld nicht in der zunehmend entwerteten Staatswährung verdienen, sondern in US-Dollar, beispielsweise im Tourismussektor. Alle anderen müssen zusehen, dass sie irgendwie überleben.

Dabei ist es noch nicht lange her, dass es auf der Insel viel Hoffnung gab. Nach mehr als 50 Jahren Feindschaft nahmen die USA und Kuba 2016 wieder diplomatische Beziehungen auf. Der damalige US-Präsident Barack Obama reichte in Havanna Raúl Castro die Hand und stellte ein Ende des Handelsembargos in Aussicht, das neben all der sozialistischen Fehlplanung und Ineffizienz der kubanischen Wirtschaft die Luft abschnürt. Raúl Castro, der als weniger dogmatisch geltende Bruder und Nachfolger Fidels an der Staatsspitze, hatte kurz zuvor liberale Wirtschaftsreformen angestoßen. Diese entpuppten sich aber als halbherzig, und die Wiederannäherung an die USA blieb endgültig stecken, als Donald Trump ins Weiße Haus einzog. Der Republikaner verschärfte die Sanktionen wieder, für seinen Nachfolger Joe Biden haben die Beziehungen zu Kuba keine Priorität mehr.

Der Tourismus ist nachhaltig eingebrochen

Einen weiteren, vielleicht den entscheidenden Schlag versetzte das Coronavirus der Insel. Die Pandemie war für alle Volkswirtschaften der Welt eine große Herausforderung – in Kuba aber legte sie die beinahe einzige Branche lahm, die bis dahin funktionierte. Von einem auf den anderen Tag blieben fast alle Touristen aus, bis heute hat Kuba sich davon nicht erholt. In anderen karibischen Ländern ist der Tourismus wieder auf dem alten Niveau, in Kuba sind die Zahlen gerade einmal halb so hoch wie vor der Pandemie. „Das hat mit den vielen schlechten Nachrichten zu tun, die von dort kommen“, sagt Bert Hoffmann, Co-Direktor des Giga-Instituts für Lateinamerikastudien. Die Versorgungskrise verschlechtere das Preisleistungsverhältnis für Touristen zusehends, so sei es etwa schwierig, Benzin für den Mietwagen zu bekommen.

Die Visabedingungen für US-Touristen, die Kuba besuchen wollen, sind unter Trump stark verschärft worden – und das wirkt sich auch auf europäische Reisende aus. Wer zum Beispiel aus Deutschland auf die Insel fliegt, kann danach nicht mehr mit der vergleichsweise einfach zu erhaltenden Esta-Genehmigung in die USA einreisen, wie das Auswärtige Amt informiert. Stattdessen muss er extra ein Visum beantragen, was deutlich aufwendiger ist.

Wird sich bald etwas ändern in Kuba? Wahrscheinlich ist das nicht. Die sozialistische Regierung unter Raúl Castros Nachfolger Miguel Díaz-Canel setzt statt auf Wandel auf Repression. Die Proteste, die im Sommer 2021 angesichts der Not ausgebrochen waren, ließ sie niederschlagen; Hunderte Demonstranten wurden in Schauprozessen zu langjährigen Haftstrafen verurteilt. Und so sind es meist die jungen, eher besser gebildeten Kubaner, die seitdem das Land verlassen. Sie halten es nicht mehr für möglich, dass sich die Dinge auf der Insel zum Besseren wenden. Wie hat es der kubanische Schriftsteller Leonardo Padura einmal formuliert? „Das, was in Kuba am meisten fehlt, ist nicht das Essen und nicht das Benzin. Es ist die Hoffnung.“

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