Süddeutsche Zeitung

Kritik an der Ukraine:Politiker fordern Verlegung der Fußball-Europameisterschaft

Entweder Julia Timoschenko oder die EM-Spiele sollen nach Deutschland kommen: Knapp sechs Wochen vor Beginn der Fußball-Europameisterschaft erhöhen deutsche Politiker den Druck auf die Ukraine. Immer häufiger wird die Forderung laut, die Spiele zu verlegen - die Szenarien sind vielfältig.

Die Kritk am EM-Gastgeberland Ukraine wegen der schlechten Haftbedingungen für Julia Timoschenko wird immer lauter. Vertreter der Europäischen Union drohen mit einem Boykott der Meisterschaft. So hat Kommissions-Präsident Manuel Barroso bereits angekündigt, auf einen Besuch in der Ukraine zu verzichten. Deutsche Politiker fordern, die Austragung der Spiele nötigenfalls in ein anderes Land zu verlegen. FDP-Generalsekretär Patrick Döring forderte am Dienstag, schnell zu prüfen, ob alle EM-Spiele in Polen stattfinden könnten. Er sagte der Feiertagsausgabe der Bild am Sonntag: "Sollte es Alternativen zu den Spielstätten in der Ukraine in Polen geben, muss man diese ernsthaft und schnell überprüfen."

Bundesentwicklungshilfeminister Dirk Niebel (FDP) sagte der Düsseldorfer Rheinischen Post: "Es ist gut, der Ukraine aufzuzeigen, was schlimmstenfalls passieren kann." Das Land solle die Zeit und die Chance nutzen, zu den Standards von Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit und damit auf den Weg nach Europa zurückzukehren.

Die menschenrechtspolitische Sprecherin der Unionsbundestagsfraktion, Erika Steinbach (CDU), sagte der Bild am Sonntag: "Eine Verlegung der Spiele von der Ukraine nach Polen, Österreich oder Deutschland wäre das richtige politische Signal an die undemokratische Regierung in Kiew." Die SPD-Bundestagsabgeordnete Gabriele Fograscher sagte: "Wegen der Sicherheitslage und den Menschenrechtsverletzungen sollte die Uefa die EM-Spiele aus der Ukraine verlegen. Deutschland bietet sich wegen seiner Nachbarschaft zu Polen als Austragungsort an."

Der Vorsitzende des Bundestagswirtschaftsausschusses, Ernst Hinsken (CSU), forderte die Uefa auf, zu prüfen, ob nicht Polen die EM allein ausrichten könne. "Sollte das nicht möglich sein, dann könnte in Deutschland geprüft werden, inwieweit eine Zusammenarbeit mit Polen möglich ist, um diese EM ohne die Ukraine zu realisieren", sagte Hinsken.

Polizeigewerkschaften halten Deutschland für vorbereitet

Der Bundesvorsitzende der Gewerkschaft der Polizei (GdP), Bernhard Witthaut, sagte der Zeitung: "Bereits vor mehr als einem Jahr haben sich Vertreter von UEFA, DFB und Bundesinnenministerium an einen Tisch gesetzt, um ein Krisen-Szenario zu entwickeln." Das sei bei Großveranstaltungen in politisch instabilen Ländern normal. "Danach ist Deutschland in der Lage, kurzfristig die ukrainischen EM-Spiele zu übernehmen. Die Zeit dafür würde auch jetzt noch ausreichen."

Der Vorsitzende der Deutschen Polizeigewerkschaft (DPolG), Rainer Wendt, hält die deutsche Polizei für ausreichend gerüstet, um ein sportliches Großereignis wie die EM kurzfristig abzusichern. "Wir würden das sofort schaffen", sagte er dem Blatt.

Mit großer Empörung hat DOSB-Präsident Thomas Bach Forderungen aus der Politik, die in der Ukraine geplanten Spiele der Fußball-EM nach Deutschland zu verlegen, scharf verurteilt. Dies sei "keine Option", erklärte der Chef des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB) am Dienstag. "Die Forderung zeugt von großer internationaler Respekt- und Instinktlosigkeit, weil sie über die Köpfe selbst des Mitgastgeberlandes Polen aber auch der anderen europäischen Nationen und des Veranstalters UEFA hinweg erhoben wird", schimpfte Bach, gleichzeitig Vizepräsident des Internationalen Olympischen Komitees (IOC).

Der deutsche Spitzenfunktionär wertete die Forderung sogar als störend. "Sie ist im Übrigen kontraproduktiv, weil sie sich auch gegen den erkennbaren Willen des ukrainischen Volkes richtet und dazu benutzt werden kann, von der politischen Diskussion über die Menschenrechte in der Ukraine abzulenken", sagte Bach und stellte klar: "Schon aus diesen Gründen ist die Verlegung von Spielen nach Deutschland keine Option."

"Schickt die Karten zurück"

Der schleswig-holsteinische FDP-Spitzenkandidat Wolfgang Kubicki wollte ebenfalls nicht so weit gehen, die Spiele nach Deutschland zu verlegen. Er rief alle Fußballfans zum Fernbleiben der Spiele in der Ukraine auf. "Schickt eure Karten zurück oder fahrt erst gar nicht zur EM in die Ukraine", sagte er.

Grünen-Bundestagsfraktionschefin Renate Künast appellierte an die deutschen Fußballer, bei der EM ein Zeichen der Solidarität mit Timoschenko zu setzen. "Der orange Schal war ein Zeichen für die demokratischen Ziele der Revolution in der Ukraine. Ein solches Zeichen sollten Funktionäre und Sportler deutlich sichtbar tragen", sagte sie.

Der CSU-Bundestagsabgeordnete Peter Gauweiler forderte die Bundesregierung auf, die Ukraine wegen schlechter Behandlung Timoschenkos zu verklagen. "Die Bundesregierung sollte Staatenbeschwerde beim Europäischen Menschenrechtsgerichtshof einlegen wegen Verstoß gegen Artikel sechs der Europäischen Menschenrechtskonvention", sagte Gauweiler.

Deutsche Vertreter von IOC und Uefa vertreten hingegen eine ganz andere Meinung: IOC-Vizepräsident Thomas Bach und der ehemalige DFB-Präsident Theo Zwanziger wehren sich vehement gegen einen Boykott der Fußball-Europameisterschaft in der Ukraine.

Hilferuf von Timoschenko-Tochter

Während Politiker und Organisatoren noch heftig diskutieren, was im Fall Timoschenko zu tun sei, schlägt ihre Tochter Alarm. Der Zustand der hungerstreikenden ukrainischen Oppositionsführerin hat sich nach den Worten von Jewgenia Timoschenko dramatisch verschlechtert. "Sie hat starke Schmerzen und kann fast nur noch liegen. Sie kann sich nur noch wenig bewegen, weil sie vom Hungerstreik geschwächt ist", sagte sie am Montag in Prag.

Die Zeit werde knapp, sagte die Tochter, die ihre Mutter nach eigenen Angaben vor zwei Tagen besucht hatte. "Ich weiß nicht, wie lange meine Mutter noch hungerstreiken kann, ob fünf oder zehn Tage." Die Familie hoffe, dass die Regierung ihre Haltung verändere.

Die Behandlung der früheren Ministerpräsidenten, die seit vergangener Woche gegen ihre Haftbedingungen streikt, hat zu dem schweren Konflikt zwischen der Europäischen Union und der Ukraine geführt.

Timoschenko ist in ihrem Heimatland zu einer siebenjährigen Haftstrafe verurteilt worden und klagt über Misshandlungen im Gefängnis. Die Verfahren gegen sie und andere Mitglieder der früheren Regierung sind in ihren Augen Schauprozesse, um die Opposition mundtot zu machen. Die Bundesregierung setzt sich dafür ein, dass Timoschenko zur medizinischen Behandlung ausreisen darf. Die Berliner Universitätsklinik Charité hat angeboten, sie zu behandeln.

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