Kritik an der Hauptstadt:Too Berlin to fail

Die Hauptstadt zur blauen Stunde

Der Berliner Fernsehturm zur blauen Stunde.

(Foto: dpa)

Ist Berlin noch zu retten? Was Experten vorschlagen:

  • Städte und Kommunen sind in Deutschland für die Daseinsvorsorge zuständig - und für diese Aufgabe finanziell zu schlecht ausgestattet. Eine gerechtere Verteilung zwischen Bund, Ländern und Kommunen muss her.
  • Der Stadtstaat Berlin funktioniert nicht - Berlin muss Teil Brandenburgs werden.
  • Die Bezirke haben zu viel Macht: Berlin muss als Großstadt, nicht als Ansammlung von Dörfern gedacht werden.
  • Der kreative Geist Berlins wehte noch nie in der Verwaltung. Daher müssen vor allem Graswurzel-Bewegungen, junge Unternehmen und private Bauprojekte gefördert werden.

Von Hannah Beitzer, Berlin

Berlin hat einen Knacks. Da war zum Beispiel dieser Abend im November: Ein Veranstaltungssaal irgendwo im Westen der Stadt, ein paar Dutzend Berliner, vier Vertreter der Berliner Verwaltung. Die Berliner auf den Zuschauersesseln wollen Vormundschaften für minderjährige Flüchtlinge übernehmen. Einige haben seit Sommer auf die Informationsveranstaltung gewartet. Versuche, die Vormundschaft daran vorbei zu organisieren, schlugen fehl. Die Berliner Verwaltung kann es eben nicht, finden viele hier. "Man muss die Leute schulen", ruft ein Mann wütend. Die Verwaltungsmenschen lächeln freundlich, aber hilflos. Schulungen kosten Zeit, Geld, Personal. Das alles ist in der Berliner Verwaltung nicht da.

Das ist eine kleine Szene im Vergleich zu der großen Katastrophe, mit der Berlin in den vergangenen Wochen auf sich aufmerksam gemacht hat: die elende Situation am Landesamt für Gesundheit und Soziales (Lageso). Für die Berliner kommen noch ein paar Unannehmlichkeiten dazu: Termine bei ihrem Bürgeramt kriegen sie nur mit Tricks oder einiger Geduld. Der Zustand der Schulen? Eltern haben einen Adventskalender-Blog namens "Einstürzende Schulbauten" gebastelt. Mehr muss man nicht sagen. Und der geplante Flughafen BER, er taugt ohnehin nur noch für Witze.

Kein Wunder, dass Berlin gerade ordentlich was abkriegt. Eine "failed Stadt" sei Berlin - in Anlehnung an den Begriff "failed state". Der beschreibt in der Politikwissenschaft einen Staat, der seine grundlegenden Funktionen dem Bürger gegenüber nicht mehr erfüllen kann: Sicherheit, Wohlfahrt und Rechtsstaatlichkeit. Uff. Berlin steht Ende 2015 da wie eine Bananenrepublik mitten im hochfunktionalen Deutschland. Ist die Hauptstadt noch zu retten?

Berlin ist nicht die einzige Bananenrepublik Deutschlands

"Berlin als failed state - das halte ich für übertrieben", sagt die Metropolenforscherin Ilse Helbrecht von der Berliner Humboldt-Universität. Die Stadt habe zum Beispiel im internationalen Vergleich immer noch eine gute Infrastruktur. Toronto etwa, die größte Stadt Kanadas, habe nur zwei U-Bahnlinien. "Auch in den USA muss man in vielen Städten gar nicht erst diskutieren, ob die U-Bahn pünktlich fährt. Es gibt einfach keine."

Und das ist nicht alles. "Viele Ausländer reiben sich die Augen, was hier alles kostenlos ist", sagt die Wissenschaftlerin. Schulen zum Beispiel, Kindergärten und auch das Studium an einer öffentlichen Hochschule wie der, in der Helbrecht gerade an ihrem Schreibtisch sitzt.

Aber klar, es gibt in Berlin die oben beschriebenen Probleme. Doch mit vielen von ihnen steht die Hauptstadt nicht alleine da. "Die Kommunen sind in Deutschland seit vielen Jahren unterfinanziert und überfordert", sagt Helbrecht. Sie seien für die Daseinsvorsorge der Bürger zuständig, ihnen fehle aber für diese Aufgabe die finanzielle Schlagkraft. Besonders, wo viele Bewohner arm sind. "So ist es zum Beispiel auch in Kommunen in Nordrhein-Westfalen oder in Bremen", sagt Helbrecht. "Das Problem ist zu wichtig, um es auf Berlin zu beschränken."

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Wenn Berlin also eine Bananenrepublik ist, dann zumindestens nicht die einzige in Deutschland. Ein schwacher Trost für die Berliner, das weiß auch Helbrecht. Eine andere Lastenverteilung zwischen Bund, Ländern und Kommunen würde helfen, sagt sie.

Ein paar sehr berlinspezifische Aspekte gibt es aber natürlich schon in der Debatte. Über die kann man prima mit Dieter Hoffmann-Axthelm sprechen. Der Theologe, Historiker und geborene Berliner hat sich schon vor Jahren tief rein gewühlt in die Planungsgeschichte seiner Heimatstadt, hat mehrere Bücher dazu veröffentlicht. Er beriet als autodidaktischer Stadtplaner den Senat zur Wendezeit, was mit der verödeten Berliner Mitte passieren soll.

Hausbesetzer, die sich in breitestem Schwäbisch als Ureinwohner definieren

Eine "failed Stadt" sei Berlin nicht, findet auch er. Allerdings funktioniere die vermeintliche Metropole auch nicht wie eine richtige Großstadt. Um zu erklären, warum, liefert Hoffmann-Axthelm einen kurzen Abriss des 20. Jahrhunderts: 1920 habe man Berlin aus unabhängigen Kommunen zusammengezimmert - und ihnen dabei viel zu viel Autonomie zugestanden. Noch fataler aber, was danach passierte: "Das Berliner Bürgertum wurde ausgerottet." Die Nazis deportierten viele der Besten ins KZ. Und nach dem Krieg habe die Wirtschaftselite das besetzte Berlin hurtig verlassen, im Osten übernahmen Parteikader die Macht.

In Westberlin hätten die verbleibenden Bürger sich an den Rand der Stadt zurückgezogen. "Von da an hat die SPD die Stadt aus ihren Laubenkolonien regiert und die CDU sich in Villen verschanzt", sagt er. Trotzdem habe Berlin den Status eines Stadtstaates erhalten. Während Hamburg und Bremen auf eine lange Tradition bürgerschaftlicher Organisation zurückblickten, habe im zerfallenen West-Berlin mit seinen eigenwilligen Bezirken niemand gewusst, "wer hier eigentlich wen regiert."

"Aber hier soll es laufen wie in ihrer Kleinstadt"

Da halfen auch die vielen jungen Alternativen nicht, die es nach Berlin zog. Die brachten vielmehr eine zusätzliche Portion Provinzialismus mit, findet Hoffmann-Axthelm - "auch wenn sich manche von ihnen damals in Kreuzberg bei Hausbesetzungen nach einem halben Jahr in breitestem Schwäbisch als Ureinwohner stilisierten". Davon sei die Berliner Zugezogenen-Szene bis heute geprägt. "Wenn die mal in New York sind, dann finden sie dort alles toll. Aber hier soll es laufen wie in ihrer Kleinstadt."

Bis heute gebe es auch das Entscheidungsgewirr zwischen dem Stadtstaat Berlin und den Bezirken. Hoffmann-Axthelm beklagt die verästelten Zuständigkeiten und die zu große Macht der lokalen Ebene, die die Organisation der wachsenden Stadt zusätzlich erschwerten - und die nun auch in der Berliner Flüchtlingspolitik zum Chaos führen. All diese Probleme spiegelten sich in der Stadtplanung wieder: "Es kann doch nicht sein, dass über Baumaßnahmen am Berliner Fernsehturm auf einer reinen Anwohnerversammlung diskutiert wird", sagt er. Das betreffe doch die ganze Stadt. Sie müsse nachverdichtet werden und endlich ein funktionierendes Zentrum bekommen, um politisch wie städtebaulich als Metropole zu funktionieren.

Gefangen in der Laubenkolonie

Die Kiezbezogenheit und den kleinstädtischen Geist mit dem Berlin-Gesetz von 1920 zu begründen, findet Hoffmann-Axthelm unbefriedigend. Auch andere Großstädte seien aus kleineren Städten entstanden. "Wenn man in Paris jemanden trifft, der in Montparnasse wohnt, dann ist er auch ganz stolz darauf. Aber trotzdem gibt es eine klare Orientierung hin zum Zentrum." Aus Erzählungen seiner Großeltern wisse er, dass das früher in Berlin auch so war. "Da bummelte man am Wochenende auf die Friedrichstraße." Dort sind heute hauptsächlich Touristen. Den Stadtplaner Hoffmann-Axthelm schmerzt das. Der Berliner Politik sei die Bedeutung des Zentrums überhaupt nicht klar, sagt er. Sie sei immer noch im Laubenkolonie-Denken gefangen.

Verpasste Fusion mit Brandenburg

Ein weiterer historischer Fehler passierte zur Wende - da sind sich Hoffmann-Axthelm und Metropolenforscherin Helbrecht einig. Mit der Wiedervereinigung Berlins hätten "Not und Elend geheiratet", sagt Helbrecht. Westberlin, das seit dem Zweiten Weltkrieg am Subventionstropf der BRD hing und die sozialistische Planungswüste Ostberlin - das konnte ja nicht gut gehen. Berlin weiterhin den Status eines Stadtstaates zu gewähren, hält sie vor diesem Hintergrund für falsch. Es hätte längst mit Brandenburg fusionieren sollen. "Zum Beispiel wird viel Einkommensteuer im Umland bezahlt, weil die Gutverdiener dort wohnen", sagt sie. Ein Fusionsplan wurde 1996 von den Brandenburgern allerdings in einem Referendum abgelehnt.

In Berlin hingegen beziehen 20 Prozent aller Haushalte Hartz IV, 54 Prozent verdienen so wenig Geld, dass sie Anspruch auf einen Wohnberechtigungsschein haben. Die Stadt muss also sparen. Darunter leiden Infrastruktur und Verwaltung. Das ist besonders fatal, weil Berlin anders als andere arme Städte, die zugleich schrumpfen, keinesfalls die Einwohner davonrennen. "Allein von 2010 bis 2014 sind 175 000 Leute dazugekommen", sagt Helbrecht. Personalabbau und Sparkurs in Zeiten einer Bevölkerungsexplosion, "da überschneiden sich ganz unglücklich zwei Entwicklungen". Das will der Senat zwar ändern, wieder investieren. Doch schmerzhaft spürbar sind bisher vor allem die Nachteile - siehe marode Schulen und Bürgerämter-Chaos.

An dieser Stelle noch einmal: Uff. Gibt's denn gar keine Hoffnung?

Aber natürlich, sagt Ilse Helbrecht. Denn die Bevölkerungsexplosion, die im Moment noch für Probleme sorge, sei eine Chance: "Gott sei Dank entwickelt sich Berlin, wenn auch von einem niedrigen Niveau aus." Die Arbeitslosigkeit sei gesunken, Kreative, junge Unternehmen und ihre Mitarbeiter kämen in die Stadt. "Das führt zwar nicht sofort zu gigantischen Einnahmen auf staatlicher Seite, aber es ist Potenzial da." Mit Abwarten sei es trotzdem nicht getan. "Berlin braucht eine Verwaltungsreform", sagt sie. Außerdem öffentlichen Wohnungsbau, der die Verdrängung stoppe, die das Wachstum mit sich bringe.

Graswurzel-Bewegung statt Verwaltung

Aber natürlich gibt es Hoffnung, sagt auch Dieter Hoffmann-Axthelm. Einer Verwaltungsreform räumt er allerdings wenige Chancen ein. "Ich setze nicht auf Politik und Verwaltung, sondern darauf, dass Parallelstrukturen entstehen", sagt er: Graswurzel-Initiativen, junge Unternehmen, private Baugruppen und Genossenschaften.

Das erinnert an ein Bürgeramt-Skandälchen aus dem Sommer: Im Juni hatten drei Jungunternehmer einen Algorithmus programmiert, der das überlastete Online-Anmeldesystem der Berliner Verwaltung nach freigewordenen Bürgeramts-Terminen durchsucht. Und diese dann gegen Gebühr an verzweifelte Berliner vermittelt. Die Berliner Politik war darüber nicht amüsiert, versuchte alles Mögliche, das Geschäft zu unterbinden.

Auch Hoffmann-Axthelm findet es falsch, Bürgeramtstermine zu verkaufen. Doch natürlich stelle sich die Frage: Warum kriegen drei junge Männer hin, was die ganze Verwaltung nicht schafft - nämlich zeitnahe Termine zu vergeben? "Eine gute Verwaltung würde versuchen, solche Leute anzuheuern, anstatt sie zu bestrafen", sagt er.

Hoffmann-Axthelm hofft jedenfalls darauf, dass die junge Generation Berlin nach vorne bringt - ob mit oder ohne Verwaltung. "Meine Generation hat schon in Kreuzberg alles dafür getan, unabhängig vom Staat werden", sagt er. Da würde es ihm schlecht zu Gesicht stehen, jetzt nach der Verwaltung zu schreien. Die solle sich lieber zurücknehmen und den Graswurzel-Initiativen nicht unnötig das Leben schwer machen, findet er. Denn die trügen den wahren alternativen Geist des alten Westberlins in sich, der in der Metropole Berlin hoffentlich weitergeführt werde.

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