Kritik an der EU:Europa hält das aus

Kritik an der EU: Bei der SPD gibt es ein Papier mit dem Titel "Europa neu gründen". Das ist ebenso vermessen wie unnötig.

Bei der SPD gibt es ein Papier mit dem Titel "Europa neu gründen". Das ist ebenso vermessen wie unnötig.

(Foto: Robert Haas)

Die EU wird am Brexit nicht zerbrechen, Europa schon gar nicht. Doch wir müssen lernen, unterschiedliche Meinungen nicht als etwas Bedrohliches zu verstehen.

Kommentar von Kurt Kister

Im Zusammenhang mit dem britischen Referendum hat man viel Alarmistisches und sogar manches Apokalyptische gehört und gelesen. Zwar soll man Dinge nicht schönreden, aber grundsätzlich ist die knappe Entscheidung von Engländern und Walisern gegen den Verbleib des einst Vereinigten Königreichs in der Europäischen Union eine Momentaufnahme der Stimmung eines Teils der Briten gegen den Politik- und Wirtschaftsverbund vom Kontinent. Nun haben gerade die Engländer einen Hang zur Selbstisolierung (Heinrich VIII. gründete eine neue Kirche, weil er sich scheiden lassen wollte). In die EU sind die Briten als späte Organisations-Europäer erst 1973 eingetreten, sie haben dort oft die Rolle der nörgligen Alten auf dem Balkon gespielt.

Europa wird am Austritt Großbritanniens aus der Union sicher nicht zerbrechen; nicht einmal die EU ist deswegen gescheitert. Allerdings: Europa ist nicht die EU. Es gibt den sehr heterogenen Kontinent Europa, der von Irland bis nach Polen und vom Nordkap bis Sizilien reicht. Dieses Europa ist eine geografische Zone mit einer etwas wabernden Peripherie - zum Beispiel ist der diesseits des Bosporus gelegene Teil der Türkei nicht "genug" Europa, um das überwiegend kleinasiatische Land zu einem wenigstens geografischen Teil Europas zu machen.

Abgesehen von der Geografie gibt es natürlich die Idee Europa. Sie vereint freiheitliche, rechtsstaatliche Demokratien in einem Willens- und Werteverbund. Schließlich gehört zur Dreifaltigkeit Europas auch noch das historische Europa. Es ist geprägt von einer oft blutigen Geschichte, in der immer wieder einzelne Mächte versuchten, den Kontinent zu dominieren. Aber dieses historische Europa wird eben auch bestimmt von Renaissance, Reformation, Aufklärung und der Evolution der Bürgerrechte. Es ist ein Kulturraum, zu dem das einst islamische Andalusien genauso gehört wie der skandinavische hohe Norden, das sarazenisch-normannisch-italienische Sizilien oder der multikulturelle Balkan.

Viele EU-Kritiker sind gute Europäer

Die EU ist nun nichts anderes als der anhaltende Versuch, den Kontinent Europa mit der Idee Europa vor dem Hintergrund der Geschichte Europas zu organisieren. Das ist mühsam, auch wenn es nicht darum geht, die Vereinigten Staaten von Europa zu schaffen, sondern für fast 30 souveräne Nationalstaaten einen so festen Rahmen wie möglich zu konstruieren, der gleichzeitig aber so weit wie nötig ist.

Viele EU-Kritiker sind gute Europäer. Ihnen ist bewusst, dass dieser Kontinent von seiner Verschiedenheit lebt und dennoch eine Annäherung der Lebensverhältnisse nötig ist. Es liegt in der Verantwortung der Wohlhabenderen, die Probleme der weniger Wohlhabenden in Europa zu lindern - wie das geschehen soll, ist einerseits eine Frage widerstreitender politischer Überzeugungen, aber auch eine Frage der Organisation möglichst gemeinsamen Handelns. Dafür steht die EU mit all ihren Fehlern, mit den unterschiedlichen Traditionen unterschiedlicher Mitgliedsländer und den großen Ambitionen, die auch aus Idealismus manchmal falsch verfolgt worden sind - eine gemeinsame Währung ohne eine gemeinsame Finanzpolitik ist nur ein Beispiel dafür.

Schubladisierungen aus dem Arsenal der Beleidigten

Wenn sich die deutsche Regierung - bisher leider vergeblich - um ein europäisches Konzept für die Flüchtlingskrise bemüht, dann ist das nicht der Versuch, die deutsche Politik in Europa durchzusetzen. Es ist vielmehr das Bestreben, einer globalen Herausforderung im europäischen Verbund zu begegnen. Griechenland, Italien und Spanien sind wegen der Geografie Europas erste Ziele der großen Migration. Aus der Geografie oder der Verantwortung aber lässt sich nicht austreten, auch nicht nach einem Referendum.

Leider gibt es jede Menge Leute, die man in Parteien wie Ukip, dem FN oder der FPÖ findet, die aus allem austreten möchten: aus der auf der historischen Entwicklung beruhenden Gegenwart, aus der Idee Europa - und vermutlich würden Nigel Farage oder Boris Johnson auch behaupten, selbst die europäische Geografie sei anti-britisch und veränderbar.

Gerade solche Retro-Nationalisten, die sich für moderne Patrioten halten, nehmen Organisationsdefizite der EU als vermeintliche Beweise dafür, dass es eine "EU-Sklaverei" (ein AfD-Landeschef) gebe. Natürlich hält Europa auch dieses krakeelige Biedermeiertum aus. Allerdings sollte eine Lehre aus dem Verlauf der Brexit-Diskussion sein, dass man gerade der gar nicht so neuen Rechten widersprechen muss, wenn sie ihren Phobien gegen "das" System, "die" Eliten, "die" Bürokraten frönt - alles Schubladisierungen aus dem Arsenal der Beleidigten, die sich ihren eigenen Kosmos der politischen Korrektheit geschaffen haben.

Die fast schrankenlose Erweiterung der Union ging zu schnell

Bei der SPD gibt es ein Papier mit dem Titel "Europa neu gründen". Das ist ebenso vermessen wie unnötig - gerade wenn man sich das historische und das ideelle Fundament ansieht, auf dem Europa ruht. Ohnehin sollten sich Deutsche mit solchen Vorschlägen eher zurückhalten. Was man hierzulande nur als eine vernünftige Verbesserung der Ordnung der EU versteht, sehen nicht wenige andere Länder als die weitere Germanisierung der EU. Deutschland hat sich aus historischen Gründen bereitwillig europäisiert, was jene, die Jérôme Boateng nicht zum Nachbarn haben wollen, für eine Entnationalisierung halten.

Allerdings gibt es etliche Exempel dafür, dass die EU reformbedürftig ist, völlig unabhängig vom Brexit. Zum Beispiel ging die fast schrankenlose Erweiterung der Union in den vergangenen 20 Jahren zu schnell. Sie hat die EU überfordert. Die supranationale Organisation EU, deren Entscheidungsfindung eigentlich auf das Konsensprinzip ausgerichtet ist, hat durch die Vielzahl der sich in wichtigen Fragen eben nicht einigen Mitgliederstaaten an Durchsetzungskraft und an Überzeugungsmacht verloren.

Es wäre ein wichtiger Schritt für die EU, den Dissens nicht als etwas Bedrohliches zu verstehen, sondern mit demokratischen Mehrheitsprinzipien gerade dann Entscheidungen zu treffen, wenn es unterschiedliche Meinungen gibt. Auch die EU-Kommission muss nicht auftreten, als sei sie Europas Regierung. Das ist sie nicht, und sie wird es wohl auch nie werden.

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