Leonardo Boff, Befreiungstheologe und Schriftsteller, zählt zu den bekanntesten Kirchenkritikern weltweit. Der 71-Jährige, der in München studiert hat, lebt in der brasilianischen Stadt Petropolis.
SZ: Als Joseph Ratzinger 2005 zum Papst gewählt wurde, haben Sie gesagt: Es wird schwer sein, diesen Papst zu lieben. Gibt es fünf Jahre danach etwas, was Sie an Benedikt XVI. schätzen?
Boff: Was ich bewundere? So gut wie nichts. Allenfalls die Hartnäckigkeit mit der er sein Projekt der Restauration verfolgt, indem er das erste vatikanische Konzil wichtiger als das zweite Konzil nimmt. Das heißt, er stellt den Papst in den Mittelpunkt und nicht die christliche Gemeinschaft. Er hat große Angst. Er sollte mehr an den Geist glauben als an Traditionen und Doktrinen. Meine Aussage von 2005 gilt noch immer. Während seiner mehr als zwanzigjährigen Zeit als Leiter der Glaubenskongregation hat Ratzinger mehr als hundert Theologen verurteilt. Die Befreiungstheologie hat er nie verstanden, viele Bischofskonferenzen unterzog er einer strengen Kontrolle.
Die fünf Jahre seines Pontifikats sind von Konflikten gekennzeichnet: mit den Muslimen, den Juden, den nichtkatholischen Kirchen, denen er den Status als Kirche abspricht, mit der anglikanischen Kirche, den Anhängern Lefebvres, mit den Frauen, den Homosexuellen. Beim Regieren hat er zahlreiche Fehler gemacht. Gemäß den Evangelien ist es seine Aufgabe, die Brüder und Schwestern im Glauben zu stärken. Das gelingt ihm nicht.
SZ: Das klingt vernichtend.
Boff: Ich habe ihn in Deutschland an der Universität als Theologieprofessor gehört. Ein Mann wie er ist nicht dafür geschaffen, eine Gemeinschaft von mehr als einer Milliarde Menschen zu leiten, zu koordinieren und mit Leben zu erfüllen. Er schafft es nicht, den Lehrer sein zu lassen und sich ganz als Hirte zu begreifen. Es mangelt ihm quasi an allem, insbesondere aber an Charisma. Wenn er ein bisschen Marx und weniger Augustinus und Bonaventura gelesen hätte, dann hätte er die Unterdrückung der Armen und die Theologie der Befreiung besser verstanden, denn sie hat den Schrei des Unterdrückten und den Schrei der Erde gehört.
SZ: Wegen Ihrer Kritik an der Kirchenhierarchie saßen Sie 1984 vor Ratzinger auf demselben Ketzer-Stuhl, auf dem schon Galileo Galilei Platz nehmen musste. Wie sehr tragen Sie ihm diese Demütigung bis heute nach?
Boff: Ich hege weder Groll, noch habe ich Narben davongetragen von dieser traurigen Reise in das dunkle und hässliche Befragungszimmer. Das ist keine besondere Tugend. So bin ich eben strukturiert. Ich war davon überzeugt, dass mein Anliegen gerechtfertigt war. Und es war die Gelegenheit, um ihn davon zu überzeugen, dass die Unterdrückten eine Herausforderung für eine neue, befreiende Verkündigung sind. Aber es war alles vergebens. Er hat sich nicht geändert, er ist nur noch schlimmer geworden.
SZ: Auf ironische Weise könnten Sie Ratzinger doch sogar dankbar sein: Die Auseinandersetzung mit ihm hat Sie weltberühmt gemacht.
Boff: Ruhm bringt keinen Vorteil, schon gar nicht für Menschen wie mich, die es verabscheuen in der Öffentlichkeit zu stehen. Die Ruhe zum Arbeiten ist weg, sei es als Schriftsteller, der 82 Bücher geschrieben hat, sei es als Wissenschaftler oder Lehrer. Die Auszeichnungen haben mir mehr Ärger als Freude eingebracht.
SZ: Sie sind ein Mitbegründer der Befreiungstheologie. Wie sehr sollte sich die Kirche in die Politik einmischen?
Boff: Die Befreiungstheologie ist für diesen Papst zu einer Obsession geworden. Erst im März hat er vor Bischöfen aus dem Süden Brasiliens wieder die marxistische Befreiungstheologie kritisiert. Aber diese Theologie existiert nur in seinem Kopf und nicht in der Realität. Er tritt damit auf einen toten Hund ein. Seit dem Fall der Berliner Mauer spricht niemand mehr vom Marxismus in der Befreiungstheologie. Das Schlimmste daran ist, dass er damit aber die Armen in den Basisgemeinden vor den Kopf schlägt, die nun sagen: ´"Der Papst spielt das Spiel unserer Feinde, die uns unterdrücken. Er verurteilt unsere Verbündeten, die Theologen der Befreiung. Wir müssen für den Vater beten, weil er von seinem Weg abgekommen ist."
Ich glaube, dass die Kirche sich schon immer in die Politik eingemischt hat. Aber sie darf es nur aus ethischen und nicht aus parteilichen Gründen tun. Sie muss sich dabei wie eine soziale Kraft unter anderen benehmen, die Trennung von Staat und Kirche respektieren, die Pluralität der Gesellschaft anerkennen, deren Geist stärken und nicht nur Privilegien verteidigen. Im Vatikan konzentriert man sich mehr auf Politik als auf die Verkündung der christlichen Botschaft.
SZ: Zeigt nicht die Diskussion um religiösen Fundamentalismus, dass sich die Kirche besser ganz aus der Politik heraushalten sollte, auch wenn sie in noch so guter Absicht handelt?
Boff: Nein, dass glaube ich nicht. Ich halte katholische Parteien für falsch. Katholiken können Mitglied in allen Parteien sein, in denen christliche Werte lebendig sind. Aber die institutionelle Kirche - insbesondere unter diesem Papst - weist fundamentalistische Züge auf, wenn sie für sich reklamiert, dass nur sie die Kirche Christi sei und anderen Kirchen den Titel Kirche abspricht. Damit bringt sie zum Ausdruck, dass andere Religionen nicht zur Erlösung des Menschen fähig sind. Es ist die Wiederbelebung der mittelalterlichen Idee, wonach es außerhalb der Kirche keine Erlösung gibt. Das ist eine nicht zu überbietende Arroganz und beleidigt alle anderen. Benedikt XVI. verwechselt Bayern mit dem Vatikan und den Vatikan mit der Welt.
SZ: Inwieweit spiegelt sich im Skandal um Missbrauch auch die Krise der katholischen Kirche?
Boff: Pädophilie ist nicht bloß eine Sünde, wie die Kirche es interpretiert hat. Eine Sünde kann immer vergeben werden, dann fängt alles wieder von vorne an mit der Versetzung des Sünders an einen anderen Ort. Die kirchlichen Autoritäten versuchen die Fakten zu verheimlichen, damit ihre Glaubwürdigkeit erhalten bleibt. Diese Einstellung ist falsch und pharisäerhaft. Pädophilie ist ein Verbrechen, das vor die Strafgerichte gehört. Von der Kirche wurde das nur aufgrund des Drucks der Weltöffentlichkeit eingestanden. Die Kirche hat sich dadurch total unglaubwürdig gemacht.
Auch die Gläubigen verlieren das Vertrauen in die Priester, denen sie ihre Kinder zur Erstkommunion anvertraut haben. Man muss aber nicht nur die Täter, sondern auch die Opfer sehen. Die moderne Kultur widmet ihnen große Aufmerksamkeit - zum Beispiel, wenn es um den Völkermord an Ureinwohnern geht, um Kinderprostitution, um internationalen Frauenhandel, um Sklavenarbeit auf den großen Farmen in Brasilien. Nur um Vergebung zu bitten und zu beten, das reicht nicht. Den Opfern der Pädophilie muss Gerechtigkeit widerfahren, indem kriminelle Priester bestraft werden. Es sind grundlegende Reformen nötig, um solche Verbrechen zu verhindern.