Kritik am NSU-Prozess:Prinzipien statt gesundem Menschenverstand

Vorschau NSU-Prozess Oberlandesgericht München

Im Oberlandesgericht München soll am 17. April 2013 der NSU-Prozess beginnen.

(Foto: dpa)

Die Sicherheit des "heimischen" Gerichtssaals, der Automatismus des Windhundverfahrens zur Platzvergabe: Man glaubte sich beim NSU-Prozess unangreifbar, wenn man keine Entscheidungen treffen muss. Doch Angst vor Kritik steht nicht für gutes Staatshandeln.

Ein Gastbeitrag von Peter Heesen

Die völlig unverständliche Entscheidung des Oberlandesgerichts (OLG) München zur Sitzverteilung von Journalisten im NSU-Verfahren erregt eine breite Öffentlichkeit. Denn hier geht es nicht um Sitzverteilung als Abbild demokratischer Wahlverfahren. Hier geht es um eine Beteiligung der breiten Öffentlichkeit an der juristischen Aufarbeitung politisch motivierter Verbrechen. Da wirft die Haltung der Verantwortlichen Fragen auf, insbesondere angesichts der anhaltenden öffentlichen Kritik - Fragen nach den Verhaltensmustern von Staatsdienern und den Hintergründen dafür, nach Motiven, vielleicht auch nach Besorgnissen und Ängsten, die solchen Fehlentscheidungen zugrunde liegen.

Und all diese Fragen münden in dem Kernproblem: Inwieweit können öffentliche Bedienstete, wenn sie herausgehobenen Anforderungen an Staatshandeln ausgesetzt sind, solche Situationen meistern? Und wo versagen sie?

Versuchen wir eine Analyse: Da ist zunächst einmal die Vorab-Festlegung des Gerichts, was die Zulassung von Journalisten betrifft. Da ist die Beschränkung auf 50 Plätze, weil der Saal nicht größer ist, da ist das sogenannte Windhundverfahren: Wer zuerst kommt, mahlt zuerst. Schon diese Vorfestlegung zeugt von einem markanten Defizit: Man muss bei einem solchen Prozess einfach mit dem Ansturm zahlreicher Berichterstatter rechnen. Trotzdem bewegt sich das OLG nicht, was die Auswahl des Verhandlungsortes betrifft. Im "heimischen" Gerichtssaal bleiben - das schafft Sicherheit. Und diese Sicherheit ist ihm wichtiger, als von vornherein bessere Voraussetzungen für eine breite öffentliche Berichterstattung zu schaffen.

Dann der zweite Akt: Man ahnt auch, dass die Auswahl von Journalisten Probleme bringen wird - und will deshalb unangreifbar sein. Unangreifbar glaubt man sich, wenn man keine Entscheidungen über eine Auswahl von Journalisten treffen muss, keine inhaltlichen Kategorien dafür festlegt. Der Ausweg: Wer zu spät kommt, der geht eben leer aus. Der formale Objektivismus wird zur Schutzimpfung gegen die erwartete Kritik. Das erspart Entscheidungen und macht scheinbar unangreifbar. Schon diese Denkweise lässt die Frage nach dem Warum entstehen. Welches sind die Motive für diese Handlungsweisen?

Automatismus zur Verhinderung von Konflikten

Der öffentliche Dienst, auch die Gerichtsbarkeit, hat schlechte Erfahrungen hinter sich. Nicht die stete Verbreitung von Stammtischparolen, sondern handfeste Erfahrungen mit öffentlicher Kritik haben den öffentlichen Dienst verletzbar gemacht. Beschimpfungen von Staatsdienern sind nicht selten geworden, sondern haben zugenommen. Entsprechend ist im täglichen Verwaltungshandeln immer häufiger im Hinterkopf, wie man öffentlicher Kritik aus dem Weg gehen kann. Es ist einerseits natürlich die Angst vor Fehlern, die dahinter steht. Aber es ist auch die Angst vor einer öffentlichen Diskussion, die ja auch davon gekennzeichnet ist, dass man es immer einem Teil der Bevölkerung nicht recht machen kann; egal, was ein Beamter tut oder lässt.

Da erscheint es geradezu ein Segen, wenn man sich auf Positionen zurückziehen kann, die Entscheidungen überflüssig machen. Anders gesagt: Der Automatismus des Windhundverfahrens wird als Konfliktverhinderungsmechanismus verstanden. Die formale Ordnungskategorie ersetzt die Entscheidung und lässt sich als absolut objektiv verteidigen.

Wir wissen, dass dies dem Anspruch auf eine freie Berichterstattung ebenso wenig gerecht wird wie dem internationalen Bedürfnis, den deutschen Rechtsstaat auf den Prüfstand zu stellen - einen Rechtsstaat, der in den Ermittlungen zur Aufarbeitung der NSU-Problematik versagt hat und der deshalb etwas gutzumachen hat. Also gibt es nun Kritik - diesmal ist es sogar außergewöhnlich scharfe Kritik. Und wieder scheint sich niemand bewegen zu wollen, obgleich viele der Kritiker nicht einfach nur meckern, sondern hilfreiche Auswege empfehlen.

Mut zu vernünftigem Handeln ist wichtig

Trotzdem ist die erste Reaktion der Prinzipienerfinder: Wir halten an unseren Entscheidungen fest. Die Antwort auf die Antwort der Gesellschaft ist: Starrheit. Und das, obwohl niemand etwas Böses von den staatlichen Instanzen will, sondern nur das Recht auf freie und umfassende Berichterstattung, auf der Basis eigenständiger Anschauungen.

Haben die Verantwortlichen der öffentlichen Hand denn so wenig Gespür für die Bürger, denen ein gerechtes Staatshandeln durch das Grundgesetz zugesagt worden ist und die dieses einfordern? So fragen sich die in- und ausländischen Beobachter. Die Fragen sind berechtigt: Wir haben in Deutschland offenbar einiges aufzuarbeiten in den Strukturen und Kulturen des öffentlichen Dienstes.

Das beginnt mit der klaren Feststellung: Der öffentliche Dienst hat in allen Bereichen, also auch in der Gerichtsbarkeit, eine eigene Verantwortung: sicher gegenüber Recht und Gesetz, aber ebenso auch gegenüber den Bürgern. Und diese Verantwortung bedeutet stets auch, Entscheidungen zu treffen. Dabei sind nicht alle Entscheidungen von rechtlicher Natur. Fragen der Gestaltungsfreiheit, der Transparenz, der Offenheit in Verfahren, der Kommunikation sind jenseits juristischer Kategorien zu gestalten. Sie verlangen gesunden Menschenverstand und sonst nichts.

Kein Gesichtsverlust, sondern Profilgewinn

Dabei mangelt es nicht einmal so sehr am Menschenverstand - den kann man Staatsdienern getrost zutrauen. Aber es fehlt ihnen der Mut zur Anwendung. Es fehlt der Mut, Vernünftiges zu tun und es auch vernünftig zu erklären.

Und ein Zweites muss besser werden: Mehr Mut zu vernünftigem Handeln ist wichtig und richtig. Das schützt zwar nicht vor Fehlern, denn das ist evident: Überall passieren Fehler. Das Wichtigste an Fehlern ist aber, dass man sie erkennt, sich zu ihnen bekennt und Konsequenzen daraus zieht. Unbeweglichkeit jedenfalls ist kein tragfähiges Prinzip öffentlichen Handelns.

Die Kritik an der Sitzverteilung beim NSU-Prozess offenbart, dass der öffentliche Dienst noch nicht überall auf dem Weg in eine moderne Gesellschaft ist. Abschottung vor der Wirklichkeit, Angst vor Kritik und Diskussionen, Angst, Fehler zu machen und sie einzugestehen - das sind nicht die Kategorien, die für gutes Staatshandeln stehen.

Beamte, Richter, Politiker: Sie alle repräsentieren diesen Staat. Sie bestimmen sein Ansehen. Und wenn sie Unansehnliches bewirken, dann müssen sie das korrigieren. Das ist kein Gesichtsverlust, sondern Profilgewinn in einem Staatswesen, das der Freiheit ebenso verpflichtet ist wie dem Recht.

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