Kristina Schröder: Familienpolitik:Die Zeit der Politik

Visionen einer Karrierefrau: Kristina Schröder propagiert Pflegezeit und neue Arbeitsformen jenseits der ständigen Verfügbarkeit, um die "Rushhour des Lebens" zu entzerren.

Felix Berth

Ole von Beust hat seinem Rücktritt ein modisches Motto gegeben: "Alles hat seine Zeit." Der Bibelvers - "Geboren werden hat seine Zeit, sterben hat seine Zeit; weinen hat seine Zeit, lachen hat seine Zeit" - ist für die beschleunigte Gesellschaft des 21. Jahrhunderts das, was die Bergpredigt für die achtziger Jahre war. Nicht Mittelstreckenraketen machen den Menschen heute Angst, sondern das Gefühl, dass für nichts genug Zeit bleibt.

Family Minister Schroeder Visits Day Care Center

Ihr Denkanstoß zu einer neuen "Zeitpolitik" sollte weiterverfolgt werden: Familienministerin Kristina Schröder

(Foto: getty)

Familienministerin Kristina Schröder hat mit Gespür für diese Sorgen angekündigt, "Zeitpolitik" zu machen. Zeit sei, so sagt sie, die "Leitwährung einer modernen Familienpolitik". Sie wirbt für ihre "Pflegezeit", in der sich Menschen um ihre alternden Eltern kümmern; sie plädiert für Arbeitsformen, die nicht länger auf den stets präsenten männlichen Managertyp setzen.

Darüber kann man sich amüsieren: Eine junge Polit-Karrieristin wirbt für einen entspannteren Umgang mit der Zeit - wie unglaubwürdig. Der Verdacht liegt nahe, dass Nichtigkeiten symbolisch inszeniert werden, weil Politik in Zeiten des Sparzwangs kaum noch gestalten kann: Das Elterngeld schrumpft, die Zahl der Appelle steigt.

Schröder hat trotzdem recht, weil unser Umgang mit der Zeit nicht zeitgemäß ist. Wie in einer misslungenen Sonate passen die Passagen eines Lebenslaufs oft schlecht zueinander. Der erste Satz, die Ausbildung, hat bei jungen Menschen etwas Zähes; der Einstieg in den Beruf gelingt erst spät. Der zweite Satz der Sonate, die Erwerbstätigkeit der Erwachsenen, ist geprägt von Hektik, weil vieles gleichzeitig erledigt werden muss: Der Beruf verlangt Engagement, die Kinder sind nicht nur Kinder, sondern "Humankapital", um dessen Wert sich Eltern kümmern. Und auch die Großeltern bedürfen irgendwann der Pflege.

Dissonanzen in der Sonate

Dieser zweite Satz, so empfinden es viele Erwachsene, ist zu schnell, zu dicht. Der dritte Teil der Sonate ist meist der entspannteste. Er beginnt erstaunlich früh und entlässt die Rentner in ein zufriedenes Leben, wie es ältere Generationen nicht kannten. Denn eine steigende Lebenserwartung verlängert vor allem die gesunden Jahre - die Vermutung, längeres Leben bedeute längeres Leiden am Lebensende, ist längst widerlegt.

Auf diese Dissonanzen sollte man nicht mit der platten Forderung antworten, die Älteren sollten länger arbeiten. Dafür sorgt die Rente mit 67; sie ist eine erste, passable Antwort auf die Alterung unserer Gesellschaft. Doch ein paar Fragen kann man anschließen: Ist eine Arbeitswelt vorstellbar, in der der zweite Satz der Sonate ein wenig lässiger klingt? Könnten Menschen im Alter von 50 oder 55 Jahren vielleicht nicht an die Rente denken? Sondern einen anderen, weniger hektischen Job annehmen, in dem sie nicht mit den maximal motivierten Dreißigjährigen konkurrieren müssen. Kristina Schröders Pflegezeit ist ein erster Versuch, die "Rushhour des Lebens" zu entzerren.

Schuften oder Abschied nehmen

Wer Angehörige pflegt, braucht ein Recht, diese Zeit seinem Arbeitgeber abzutrotzen. Das mag ein Modell für Besserverdiener sein, denn der Plan setzt auf Gehaltsverzicht, den sich nicht jeder leisten kann. Ein staatlich finanzierter Ausstieg wäre wünschenswert, doch in einer Zeit der Spargesetze kaum durchsetzbar. Das neue Recht wäre besser als die heutige Rechtlosigkeit: Derzeit müssen Frauen, die Angehörige pflegen (Männer drücken sich in der Regel vor dieser Arbeit) den Job kündigen, wenn sie mit der Doppellast nicht zurechtkommen. Künftig hätten sie eine Option mehr. Nicht staatlich honoriert zwar, aber manchmal besser als der Abschied vom Beruf.

Schröders Idee einer "Zeitpolitik" sollte man weiterverfolgen. Wünschenswert sind Möglichkeiten des temporären Aussteigens, die der Vierzigjährige für ein kurzes Studium nutzt oder der Fünfzigjährige für eine Auszeit im Kloster. Solche "Sabbaticals" gibt es in einzelnen Unternehmen - doch wer sie nimmt, gilt oft als Exot, manchmal als Idiot: Wieso verlässt einer den Job, wenn in der Karriere danach nichts mehr weitergeht?

Schuften oder Abschied nehmen

Zeitfragen sind freilich auch Machtfragen. Sie berühren unausgesprochene Prinzipien der Arbeitswelt. Zum Beispiel das Prinzip der "Seniorität" der Tarifverträge: Mit dem Alter steigt das Gehalt. Derzeit ist unvorstellbar, dass ein 62-Jähriger laut Tarif weniger verdient als jemand mit Mitte dreißig im gleichen Job. Das ist für Ältere erfreulich, denn es macht ihr Gehalt verlässlich.

Leider wendet sich das Prinzip auch gegen sie: Bis zum Tag der ersten Rente bleiben sie dem gleichen Druck ausgesetzt wie die Jüngeren. Und wenn sie einen neuen Job suchen, sind sie teuer und chancenlos.

Dieses Prinzip könnte man - maßvoll - ändern: Die Gehälter im Jahrzehnt vor der Rente sinken leicht; entsprechend steigen die Gehälter der Jüngeren. Das wäre ein Signal, dass sich die Arbeitswelt den Bedürfnissen der Menschen auf neue Weise anpasst. Denn derzeit müssen sich ältere Beschäftigte oft zwischen unangenehmen Varianten entscheiden: Entweder sie schuften so atemlos wie Jüngere (wenn sie das schaffen) - oder sie verabschieden sich aus der Arbeitswelt (wenn sie es sich leisten können). Die erste Gewerkschaft und der erste Arbeitgeberverband, die einen dritten Weg beschreiten, haben einen Orden verdient: den Orden wider die hektische Zeit.

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