Die politische Krise in Serbien weitet sich mit dem Rücktritt der Regierung, neuen Angriffen auf Studierende und einem heftigen Streit in der einflussreichen Serbisch-Orthodoxen Kirche aus. Ministerpräsident Miloš Vučević erklärte am Dienstagmorgen seinen Rücktritt und damit automatisch den der gesamten Regierung. Vučević erklärte, er habe seinen Rücktritt mit Präsident Aleksandar Vučić abgestimmt, der eigentlichen starken Figur in der serbischen Politik.
Mindestens 100 000 Belgrader Studentinnen und Studenten und andere Bürger hatten von Montagvormittag bis Dienstagmittag die „Autokomanda“ blockiert, Abzweig der Autobahn Belgrad-Zagreb und einer der wichtigsten Verkehrsknotenpunkte der Hauptstadt Serbiens. Die Blockade, die von Reden und Konzerten begleitet war, verlief gewaltfrei. Gleichzeitig kam es in Serbiens zweitgrößter Stadt Novi Sad zu neuer Gewalt.
Die Proteste richten sich auch gegen die Korruption
Durch den Zusammenbruch des Bahnhofvordachs in Novi Sad am 1. November 2024 waren 15 Menschen getötet worden. Das Ereignis hatte seitdem immer größere Proteste vorwiegend unter Studierenden ausgelöst. Diese sehen die 15 Toten an dem Bahnhof, der nach offiziellen Angaben angeblich „nach europäischen Standards“ jahrelang aufwendig saniert worden war, als direkte Opfer der in Serbien allumfassenden Korruption.
Während am Montagabend in Belgrad die Blockade der Autokomanda andauerte, griffen in Novi Sad Mitglieder der Regierungspartei SNS in zwei Fällen Hochschüler an, die neue Demonstrationen gefordert hatten. Eine Studentin wurde offenbar mit einem Baseballschläger zusammengeschlagen und liegt im Krankenhaus. Der Ministerpräsident bestätigte in seiner Rücktrittsrede die gewaltsamen Zwischenfälle und die Mitgliedschaft der Angreifer in seiner Regierungspartei SNS. Damit begründete er auch seinen Rücktritt.
Die politische Krise in Serbien dürfte weder damit noch mit der Einsetzung einer neuen Regierung beendet sein. Präsident Vučić behauptete in einer Pressekonferenz am Montagabend, es seien alle Dokumente zur Bahnhofssanierung in Novi Sad veröffentlicht worden, wie von den Studierenden gefordert. Studentenvertreter und Fachleute bezweifeln dies.
Bislang keine Gerichtsverfahren gegen Verantwortliche
Zudem belegen einem Bericht des unabhängigen Fachdienstes Balkan Insight zufolge schon veröffentlichte Dokumente, dass bei der sich von 2021 bis 2024 hinziehenden Bahnhofssanierung massiv geschlampt wurde, Baustandards nicht eingehalten wurden und teils keine Kontrollen stattfanden.
Bisher gibt es keine Gerichtsverfahren gegen etliche Verantwortliche, wie von den Studenten gefordert. Auch der Etat des in Serbien seit Jahren vernachlässigten Bildungsbereiches wurde nicht wie gefordert erhöht. Ebenso wenig will der Präsident Strafverfahren gegen während der Proteste festgenommene Hochschüler oder Professoren fallen lassen, bei denen die Vorwürfe nach studentischer Darstellung erfunden worden waren. Vučić erklärte sich nur bereit, mehrere im Visier der Justiz stehende Studenten oder Professoren zu „begnadigen“.
Vučić forderte die Studierenden zum „Dialog“ auf, der „den Beginn des Heilens unserer Gesellschaft bedeuten kann“ und drohte ihnen unverhohlen. Bei der Regierungspartei wachse „schnell der Zorn …, der immer schwieriger zu stoppen ist“. Die Serbisch-Orthodoxe Kirche, die zu den wichtigen Stützen Vučićs und seiner Regierung gehört, kritisierte die Studenten am Montag in einer offiziellen Stellungnahme, sie lebten „in einer Parallelwelt“.
Serbisch-Orthodoxe Kirche kritisiert Studierende
Der Text, der kaum ohne Zustimmung des Vučić nahestehenden Patriarchen Porfirije Perić veröffentlicht werden konnte, rief nicht nur bei Studenten scharfe Kritik hervor. Bis Dienstagmittag verurteilten fünfzehn führende Priester, Theologen und Professoren die Kirchen-Stellungnahme als „unwürdigen Text“ und erklärten den Hochschülern ihre Unterstützung für ihre legalen Forderungen und Handlungen.
Nach dem Rücktritt der Regierung wird Präsident Vučić einen neuen Kandidaten als Regierungschef vorschlagen, dessen Wahl im regierungskontrollierten Parlament indes als Formsache gilt. Vučić kündigte an, die Hälfte der Regierung auszutauschen. Er könnte zudem vorgezogene Neuwahlen ausrufen, wie er es bereits mehrmals getan hat, zuletzt bei einer vorgezogenen Wahl im Dezember 2023. Diese Wahl in Serbien wurde als massiv manipuliert und teils gefälscht kritisiert, das Vučić-Lager wurde in ihr bestätigt. Proteste gegen die vor allem in Belgrad massiv manipulierte Wahl verunglimpfte Vučić damals als westliche Versuche, in Serbien eine „Farbenrevolution“ herbeizuführen.
Der zurückgetretene Regierungschef Vučević, seit vielen Jahren enger Vertrauter des Präsidenten, erklärte, es gehe nun angeblich „darum, Serbien als Staat zu erhalten“. Zu den wenigen, die Vučić seit Beginn der Studentenproteste stützen, gehören Russland und China. In Moskau etwa erklärte Maria Sacharowa, die Sprecherin des russischen Außenministeriums, am 25. Dezember 2024, der Westen versuche, Serbien mit den bekannten Methoden der „Farbenrevolutionen“ zu destabilisieren. Die Diskreditierung von Demokratiebewegungen als angeblich vom Ausland gesteuerte „Farbenrevolutionen“ gehört seit der sogenannten „Rosenrevolution“ 2003 in Georgien und der „Orangenen Revolution“ in der Ukraine 2005 zum Standardrepertoire um ihre Macht fürchtender autoritärer und totalitärer Regime.
Studentenvertreter erklärten den Rücktritt der Regierung zum Ablenkungsmanöver und kündigten an, sie würden bis zur vollen Erfüllung aller Forderungen protestieren. Serbische Bauern begannen am Dienstagmittag beim Ort Kragujevac mit Traktoren eine auf 24 Stunden angelegte Blockade einer wichtigen Kreuzung, mit der sie nach ihren Angaben Solidarität mit den Hochschülern bekunden und gegen die ihrer Meinung nach zu niedrigen Milchpreise protestieren wollen.