Krise in Mali:Chaos in Afrikanistan

Im Norden Malis haben Islamisten die Macht übernommen. Sie lassen unverschleierte Frauen auspeitschen, zerstören Heiligengräber und wollen im ganzen Land die Scharia durchsetzen. Der Ruf nach einem militärischen Eingreifen in dem nordafrikanischen Land wird immer lauter.

Tobias Zick

Jetzt gestehen sie ein, dass das Ganze wohl doch etwas zu kurz gedacht war: Die Tuareg-Rebellen, die im Norden Malis einen unabhängigen Staat namens "Azawad" ausgerufen haben, sehen sich inzwischen von den Islamisten derart in die Ecke gedrängt, dass zumindest einige verkünden, ihre separatistischen Ziele fallen zu lassen. Man fordere jetzt, wie ein Sprecher erklärt, nur noch "kulturelle, politische und wirtschaftliche Autonomie".

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Im März wurde Präsident Amadou Toumani Touré weggeputscht. Ins Machtvakuum drangen Rebellen mit zweifelhaften Verbündeten. 

(Foto: AFP)

Mit jedem Tag, der verstreicht, spitzt sich die Krise im Norden Malis zu. Etwa 300.000 Kinder können nicht mehr zur Schule gehen, mindestens 175 minderjährige Jungen sind für Kampftruppen rekrutiert worden, mindestens acht Mädchen vergewaltigt oder missbraucht - das sind Zahlen, die das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen kürzlich präsentiert hat, mit dem Zusatz, man kenne derzeit nur einen schmalen Ausschnitt aus dem Geschehen.

In den bitterarmen Nachbarländern Niger und Mauretanien füllen sich die Flüchtlingslager; mehr als 330.000 Menschen sollen bereits ihre Heimat im Norden Malis verlassen haben, das ist, um die Größenordnung zu verdeutlichen, als wäre ganz Bonn auf der Flucht. Jetzt verschlimmern obendrein Dürren und Ernteausfälle die Lage; der stellvertretende UN-Generalsekretär Jan Eliasson warnt: "Die Welt muss aufwachen und das anhaltende humanitäre Desaster erkennen, bei dem 18 Millionen Menschen vom Hungertod bedroht sind."

Als wesentlicher Auslöser für die Krise - manche Beobachter sprechen inzwischen von "Afrikanistan" - gilt der Krieg in Libyen: Nach dem Sturz des dortigen Regimes sind Tuareg, die Gaddafi als Söldner gedient hatten, bepackt mit reichlich Waffen in ihre malische Heimat zurückgekehrt, um im Norden des Landes für Autonomie zu kämpfen. Daraufhin haben junge malische Generäle im März den Präsidenten Amadou Toumani Touré weggeputscht - mit der Begründung, er tue zu wenig, um den Tuareg-Kämpfern Einhalt zu gebieten. Das Machtvakuum, das sich so auftat, nutzten die Rebellen erst recht, um die Kontrolle über den Norden des Landes an sich zu reißen - in zweifelhafter Allianz mit islamistischen Gruppen. Wenig später kaperten die Islamisten die Revolte und schlugen die säkularen Tuareg-Kämpfer in die Flucht; inzwischen sind alle größeren Städte des Nordens unter ihrer Kontrolle.

Hier und da flackern Proteste von Einheimischen gegen die Scharia-Terroristen auf, etwa in der Stadt Goundam, wo einige Hundert Bewohner vergangenen Freitag wütend auf die Straße gegangen sein und das Hauptquartier der Islamisten angegriffen haben sollen. Das Fass zum Überlaufen gebracht hatte offenbar die Auspeitschung einer jungen Frau, die unverschleiert an einen Brunnen zum Wasserholen gegangen war - dabei soll das Baby, das sie im Arm trug, zu Boden gefallen sein. Als Strafe für die Protestaktion wiederum sollen die religiösen Extremisten etwa 90 weitere Menschen ausgepeitscht haben.

Nur eines von vielen Verbrechen

Angesichts solcher Meldungen ist die Zerstörung der Heiligengräber und Moscheen von Timbuktu nur eines von vielen Verbrechen - es ist ein "Angriff auf den physischen Beweis, dass Frieden und Dialog möglich sind", wie es die Unesco-Chefin Irina Bokova formuliert. In der Tat: Mali galt bis vor Kurzem als Musterdemokratie auf dem afrikanischen Kontinent, als Heimat eines toleranten, friedlichen Islam.

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Die Zerstörung von Heiligengräbern und Moscheen ist nur eines von vielen Verbrechen in Mali.

(Foto: Videostandbild/AFP)

Neben der moralischen Verantwortung liegt es deshalb auch im ureigenen Interesse Europas und der USA, die Region schnellstmöglich zu stabilisieren: Islamistische Terroristen schwärmen von dort in Nachbarländer wie Algerien aus und könnten in Zukunft auch Aktionen gegen westliche Staaten vorbereiten. Die USA verstärken ihr Spionage-Netzwerk in der Region, die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton hat am Montag verkündet, eine 50-köpfige Expertenmission für den Kampf gegen Terrorismus und organisiertes Verbrechen in Malis Nachbarstaat Niger zu entsenden.

In Mali und in anderen afrikanischen Staaten wird der Ruf nach einer militärischen Lösung immer lauter - doch die soll für die Afrikanische Union (AU) die "letzte Option" bleiben: "Wir haben noch nicht alle Möglichkeiten ausgeschöpft, um zu einer friedlichen Lösung zu kommen", erklärte am Montag der Vorsitzende der AU-Kommission für Frieden und Sicherheit. Die erste und wichtigste Herausforderung liegt darin, die staatlichen Strukturen in Malis Hauptstadt Bamako zu stabilisieren. Der Übergangspräsident Dioncounda Traoré weilt noch immer in Frankreich, seit ihn im Mai ein Mob im Präsidentenpalast angriff, mutmaßlich aufgehetzt von den Putsch-Generälen.

Bis Ende Juli sollen nun die derzeitigen Machthaber eine "Regierung der nationalen Einheit" bilden, andernfalls droht die AU mit Sanktionen. Für den Fall, dass die Verhandlungen scheitern, schmiedet die westafrikanische Wirtschaftsgemeinschaft Ecowas Pläne, Truppen in den nördlichen Teil Malis zu entsenden. Der UN-Sicherheitsrat wollte dafür bislang noch kein Mandat erteilen und dringt zunächst auf eine deutliche Präzisierung der Pläne.

Vor einem militärischen Szenario stehen in der Tat viele offene Fragen: Eine Präsenz europäischer oder US-amerikanischer Truppen dürfte nicht nur in deren Heimatländern für Kontroversen sorgen, sondern auch vor Ort neue Ressentiments wecken - weshalb etwa der Präsident der einstigen Kolonialmacht Frankreich, François Hollande, erklärt, eine militärische Initiative müsse aus Afrika selbst kommen, wobei sein Land sich freilich solidarisch zeigen würde. Große Erwartungen liegen derzeit auf Algerien: Am Montag ist Frankreichs Außenminister Laurent Fabius dorthin gereist, auch um mit Präsident Abdelaziz Bouteflika über eine Lösung für Mali zu beraten. Algerien, stärkste Militärmacht in der Region, ist selbst unmittelbar betroffen; gegenwärtig sollen noch vier algerische Diplomaten in Geiselhaft auf malischen Territorium sein.

Selbst die Hoffnung, dass sich innerhalb der Islamisten-Front etwas bewegen könnte, haben noch nicht alle Beteiligten aufgegeben: Ein Vertreter der Afrikanischen Union hat am Montag die vergleichsweise etwas gemäßigteren Islamisten der Gruppe Ansar Dine aufgerufen, ihre Zusammenarbeit mit dem Terrornetzwerk al-Qaida aufzugeben. Eine Verhandlungslösung mit jenen religiösen Extremisten, die Frauen auspeitschen und Kunstschätze zertrümmern - das wäre wohl in der Tat die überraschendste aller Varianten.

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