Es ist mehr als nur ein Spiel. Das gilt zwar auch an anderen Tagen, aber an diesem Abend erst recht. Die fünfte Minute hat gerade begonnen, als die ukrainische Nationalhymne erklingt. "Noch ist die Ukraine nicht gestorben", singen die Ultras und schwenken jene blau-gelben Fahnen, die in Donezk außerhalb der Donbass-Arena so selten geworden sind. Es ertönt ein Pfeifkonzert, aber als die Ultras ihre patriotische Darbietung beendet haben, gibt es auch Applaus. Das Publikum wirkt unentschlossen, was nicht untypisch ist für Donezk in diesen wirren Tagen.
Schachtjor Donezk gegen Tawrija Simferopol - ein ukrainisches Erstligaspiel. 20. Spieltag, Tabellenführer gegen Abstiegskandidat. Das sagt die Statistik. Politisch sieht es so aus: Simferopol liegt auf der Halbinsel Krim, die Russland seit dem 21. März als sein Staatsgebiet betrachtet. Sollten Tawrija-Fans die Auslandsreise auf sich genommen haben, geben sie sich in der Arena nicht zu erkennen. Am Ende steht es 2:1. Und niemand, wirklich niemand schwenkt im Donbass-Stadion die russische Trikolore.
Vom futuristischen Fußballstadion bis zu dem großen, grauen Klotz, der normalerweise die Verwaltung der Region beherbergt, sind es zu Fuß 15 Minuten. Ob diese Viertelstunde in die Vergangenheit führt oder in die Zukunft, ist nicht so ganz klar. "In der Sowjetunion geboren, gemacht in der UdSSR", dröhnt es im Rhythmus russischen Pops aus einem Lautsprecher. Zwei Zelte säumen den Weg zum Eingang, dahinter türmt sich eine Wand aus Autoreifen auf. "Marsch, Marsch, russischer Marsch", geht das musikalische Programm weiter, "die Russen spucken auf die Macht Amerikas." Zwischen Autoreifen gibt es einen Durchschlupf, an dem junge Maskierte Passierscheine kontrollieren und Leibesvisitationen vornehmen. "Betrunkene kein Zutritt", mahnt ein Zettel.
Jemand hat die Karte des Donezker Gebiets mit "Rossija" überschrieben - Russland
Seit fast drei Wochen ist das Gebäude in der Hand jener, die sich selbst als "Volksrepublik Donezk" bezeichnen. Sie haben sich mittlerweile eingerichtet und bereits eine Art Bürokratie geschaffen. Eine Wand mit Zetteln dient als provisorischer Wegweiser durch die Behörde: "Zimmer 231 Registratur, Zimmer 228 Passierscheine". Die "Finanzverwaltung" hat offenbar kein Zimmer, dafür aber drei Telefonnummern. Dazwischen Hilferufe: "Benzin benötigt" und "Wir brauchen Zigaretten". Eine "Bekanntmachung" lautet: "Kosaken aus russischen Regionen melden sich bitte bei Viktor". Die Handynummer ist angegeben.
Auf einem Fernseher in der Lobby läuft ununterbrochen der erste Kanal des russischen Fernsehens. "In Gorlowka ist die Flagge der Volksrepublik Donezk gehisst worden", meldet gerade eine Sprecherin. Ein Schwarzmaskierter applaudiert. Zu sehen sind auch deutlich professioneller wirkende Männer in Tarnfleck-Uniformen. Für Außenstehende sind die paramilitärischen Strukturen im Haus unübersichtlich. Zu viel Neugier ist ohnehin nicht ratsam. "Alle enttarnten Provokateure werden zum Latrinendienst eingesetzt", lautet ein Warnhinweis.
Auf einer Bühne vor der Tür ergreift ein junger Mann, der sich nicht vorstellt, das Mikrofon. "Wie konnten wir auseinandergerissen werden?", beginnt er einen historischen Vortrag, der bis ins 16. Jahrhundert führt und das russische Wesen jenes Gebiets zum Thema hat, das den Osten der Ukraine bildet. "Wir sagen Folgendes: Die Volksrepublik erklärt ihre Unabhängigkeit", kommt er schließlich zur Gegenwart. "Dann werden wir uns mit Lugansk vereinen. Das ist eine technische Frage", fährt er fort, um schließlich zu versprechen: "Wir werden in einem großen, gemeinsamen Land leben." Der junge Mann verrät nicht, wie dieses Land heißt, aber in der Lobby im Inneren des Gebäudes hat jemand mit rosa Marker eine Karte des Donezker Gebiets mit "Rossija" überschrieben - Russland. Am 11. Mai oder früher wollen die Separatisten ein Referendum durchführen. Freiwillige für die Organisation möchten sich bitte in Zimmer 227 melden, zweiter Stock.
Russische Militärmanöver an der Grenze:Die Ukraine am Rande eines Krieges
+++ US-Außenminister Kerry wirft Russland Sabotage vor +++ Moskau ordnet Manöver an - als Antwort auf "ukrainische Militärmaschinerie" +++ In Ostukraine verschleppter US-Reporter wieder frei +++ Kreml-Kritiker Chodorkowski wirft Putin persönliche Rache vor +++
Vielleicht 200 sind es, die diesen Volksreden lauschen. Die Bürger von Donezk tun so, als ginge sie das Geschehen nichts an. Ein paar Hundert Meter vom Ort des Aufstands entfernt führen die Menschen im Park ihre Hunde aus oder lesen Zeitung. Die allermeisten gehen weder für noch gegen den Erhalt der Ukraine auf die Straße. "Das hat doch alles vor 23 Jahren angefangen. Die Sowjetunion hätte nie auseinandergerissen werden dürfen", sagt ein Spaziergänger. Das Leben in Donezk geht weiter wie immer, obwohl die Menschen wissen, dass am Stadtrand das Land der Checkpoints beginnt und nach zwei Stunden Fahrt die Herrschaft der Separatisten.
In Slawjansk ist die Staatsmacht zusammengebrochen. Rathaus, Polizei und Geheimdienstzentrale sind in der Gewalt der Aufständischen. Die Miliz des selbst ernannten "Volksbürgermeisters" Wjatscheslaw Ponomarjow hatte am Montag den US-Journalisten Simon Ostrovsky und offenbar auch mehrere Ukrainer als Geiseln genommen. Ostrovsky wurde erst am Donnerstagabend wieder freigelassen, er sei geschlagen und gefesselt worden, berichtete er. "Provokateure" seien das und keine Journalisten, verkündet Ponomarjow in regelmäßigen Auftritten vor Reportern. Er will sie austauschen gegen einen seiner Männer, den die proukrainische Seite festgenommen hat. Am Donnerstag werden Schüsse aus Slawjansk gemeldet. Von fünf toten prorussischen Kämpfern ist die Rede. Die von der Übergangsregierung in Kiew oft angekündigte "Anti-Terror-Operation" scheint anzulaufen.
Vom Genfer Abkommen, vor einer Woche zwischen den USA, Russland, der EU und der Ukraine ausgehandelt, spricht kaum noch jemand. Gewiss, es gibt die Mission der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), die in einem unscheinbaren Hotel in einem Donezker Hinterhof ihr Quartier bezogen hat. Doch die Berichte der OSZE-Leute klingen jeden Tag ein bisschen düsterer.
"Ich habe Angst. Seit zwei Monaten befinde ich mich im Dauerstress", sagt Igor Todorow. Der Professor sitzt in seinem kargen Büro an der Universität von Donezk und beschreibt eine Welt, die gerade zusammenbricht - seine Welt. Im Säuglingsalter ist er vor 54 Jahren mit seinen russischen Eltern nach Donezk gekommen. Heute sagt er von sich: "Ich sehe mich als Ukrainer im politischen, nicht im ethnischen Sinne".
Todorows Mission ist die europäische Integration der Ukraine. Er ist Professor für Internationale Beziehungen und Leiter eines EU-Informationszentrums. In Donezk gehörte er zu denen, die bis vor ein paar Monaten abends zum örtlichen Euro-Maidan gingen. Höchstens ein paar Tausend waren das, bei Weitem nicht so viele wie in Kiew. Trotzdem ist Todorow überzeugt, dass jene Umfragen zutreffen, wonach eine Mehrheit nicht dem Beispiel der Krim folgen will. Separatistische Tendenzen habe es bis vor ein paar Wochen in der Stadt nicht gegeben. "Sympathie für Russland ja, Separatismus nein", sagt der Professor. Er glaubt, dass sich vor seinen Augen "eine lange geplante Operation Russlands" abspielt und ihm die Zukunft in der eigenen Stadt raubt. Bis vor Kurzem, sagt er, habe er ein Europa-Emblem an der Tasche getragen. Das tut er nicht mehr. Nur sein Handy klingelt noch ganz so wie früher, in den Tönen der Europahymne.