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Krise in der Ukraine:Lasst die Krim abstimmen - aber richtig

Lesezeit: 4 min

Viele Menschen auf der Krim wollen die Abspaltung von der Ukraine. Doch wie viele sind es wirklich? Russlands militärisches Eingreifen verhindert eine Antwort auf diese Frage genauso wie die Weigerung Kiews, ein Referendum zu akzeptieren. Putin muss einlenken - aber der Westen auch.

Ein Kommentar von Markus C. Schulte von Drach

Schwere Vorwürfe fliegen hin und her zwischen Ost und West, und auf beiden Seiten sind die Schuldigen schon lange ausgemacht.

In Russland und auf der Krim werden die Kräfte, die hinter dem Machtwechsel in Kiew stehen, pauschal als Faschisten diffamiert. Im Westen dagegen stellen fast alle Medien den russischen Präsidenten als Militaristen und Brandstifter dar.

Aber die westliche Politik handhabt "moralische Maßstäbe und völkerrechtliche Grundsätze mit einer geradezu opulenten Widersprüchlichkeit", warnt die Journalistin Charlotte Wiedemann in der taz. "Ob neue Staaten erlaubt sind, ob ein Referendum Gültigkeit hat, ob ein Putsch legitim ist, eine Intervention gerechtfertigt, eine Bombardierung geboten, all dies ist schlicht eine Frage von Interessen."

Wiedemann hat recht. Beispiele in der jüngsten Vergangenheit sind etwa der Kosovo und Kroatien, Südsudan, Mali, Libyen, Syrien oder die Zentralafrikanische Republik.

Empörung in Europa wirkt auf Russen geheuchelt

Tatsächlich ist Putins Ziel, Russlands Machtbereich auszuweiten, im Prinzip nicht fragwürdiger als die Bestrebungen westlicher Länder, ihren Einflussbereich etwa in Afrika zu vergrößern oder zu erhalten. Klar ist aber auch, dass Russlands Präsident gegenwärtig das Völkerrecht bricht. Dass auch westliche Staaten in der Vergangenheit - etwa im Kosovo-Krieg - dies getan haben, macht es nicht besser. Nur sollte man sich klar darüber sein, dass die Empörung im Westen auf viele Russen geheuchelt wirken dürfte.

Das kommt Putin für seine Propaganda sehr entgegen. Er beruft sich für sein Vorgehen auf der Krim auf politische Vereinbarungen zwischen Russland und der Ukraine, erklärt die Machtübernahme in Kiew für verfassungswidrig und behauptet, es gebe eine humanitäre Katastrophe unter den Russen in der Ukraine. Alles das ist falsch und der Westen muss auf Putins Lügen reagieren, auf die russischen Soldaten auf der Krim, die Falschmeldungen russischer Medien, die Abschaltung ukrainischer Sender auf der Krim. Allerdings sollten der richtige Weg, das richtige Maß und die richtigen Worte gefunden werden.

Denn zugleich muss die Frage gestellt werden, wie Kiew es rechtfertigt, die Forderung vieler Krim-Bewohner nach Unabhängigkeit und einem entsprechenden Referendum einfach abzutun. Es stimmt, dass die Verfassung der Ukraine ein solches Referendum nicht zulässt. Aber lässt sich gar nicht darüber reden? Übergangsministerpräsident Arseni Jazenjuk hat allerdings erklärt, die Ukraine sei "unser Land, wir werden keinen Zentimeter davon aufgeben". In wessen Namen erklärt er die Besitzansprüche auf die Autonome Republik? Die Krim-Bewohner betrachten die Halbinsel sicher nicht als Land, das Politikern in Kiew gehört. Schon vor dem Umsturz in der Hauptstadt war klar, dass viele Menschen auf der Krim sich eher Russland verbunden fühlen als der übrigen Ukraine. Das hat historische Gründe.

Nachdem die Opposition den gewählten Präsidenten Viktor Janukowitsch aus dem Amt gejagt hat, ist es keine Überraschung, dass viele Menschen auf der Krim ebenfalls ihren Willen durchsetzen wollen. Sie befürchten Nachteile aufgrund der Orientierung der Übergangsregierung in Kiew nach Westen und wegen der Beteiligung rechtsextremer Kräfte.

Andererseits: Wie viele Menschen auf der Krim wollen tatsächlich wieder von Moskau abhängig sein wie in den Zeiten der Sowjetunion? Es ist ja mehr als irritierend, wie der Ministerpräsident der Krim, Sergej Aksjonow, zu seinem Amt gekommen ist. Er war Abgeordneter einer moskautreuen Splitterpartei und wurde im Krim-Parlament in Simferopol gewählt, nachdem bewaffnete Kräfte das Gebäude besetzt hatten - die er vermutlich mit aufgewiegelt hatte. Ist also der Eindruck, eine deutliche Mehrheit auf der Krim stehe hinter der vom Parlament verkündeten Unabhängigkeit von der Ukraine, nur das Ergebnis eines politischen Schmierentheaters?

Dafür spricht auch, dass das geplante Referendum zum Status der Krim offensichtlich durchgeprügelt werden soll. Zunächst sollte am 25. Mai abgestimmt werden. Dann wurde es schnell auf den kommenden Sonntag vorgezogen, an dem die Bevölkerung gefragt wird, ob sie für den Anschluss an die Russische Föderation ist oder mit noch mehr Rechten ein Teil der Ukraine bleiben will. Eine sachliche Auseinandersetzung ist bei diesem Tempo unmöglich.

Aber objektiv betrachtet ist es trotzdem der beste Weg, den Willen der Betroffenen festzustellen - und dann vernünftig damit umzugehen. Staaten sind Gebilde, die nicht um ihrer selbst Willen existieren, sondern für die Staatsangehörigen als Gemeinschaft vorteilhaft sein sollten. Verfassungen dienen den Interessen der Menschen innerhalb dieser Gebilde. Die Frage der Unversehrtheit des Territoriums soll Staaten vor allem davor schützen, dass andere Staaten mit Gewalt Teile aus ihnen herausbrechen.

Doch Staatsgebiete dürfen natürlich geändert, Grenzen verschoben werden. Länder können sich zusammenschließen - oder wieder trennen, wie es zuletzt etwa mit der Sowjetunion geschehen ist, mit Jugoslawien, wie es Serbien mit dem Kosovo ergangen ist. Und wie es dem Vereinigten Königreich demnächst vielleicht mit Schottland ergehen wird. Manchmal geschieht dies im Einverständnis der Beteiligten, manchmal aber "nimmt es das klassische Völkerrecht zur Kenntnis, wenn die Bevölkerung eines Teilgebiets sich selbst organisiert und sich länger gegenüber der Zentralregierung behauptet", sagt etwa Georg Nolte, Mitglied der UN-Völkerrechtskommission.

Was tatsächlich völkerrechtswidrig ist und bleibt, ist der Einsatz von Soldaten aus dem Ausland, mit dem Ziel, Staatengebilde zu spalten. Russlands Militär auf der Krim hat offiziell den Auftrag, Russen auf der Halbinsel zu schützen - doch die sind gar nicht bedroht. Mit seinem Vorgehen auf der Krim untergräbt Putin also jegliche vorstellbare internationale Legitimation einer Abspaltung der Krim.

Beide Seiten müssten und könnten noch einlenken. Russland muss die Interventionen auf der Krim beenden, die Soldaten abziehen, die Handlanger aus den Machtpositionen entfernen, die Pressefreiheit wiederherstellen und den Informationskrieg beenden. Vielleicht wäre Putin damit eher einverstanden, wenn Kiew es wiederum akzeptiert, dass auf der Krim ein Referendum stattfindet - und dass die Krim bei einem entsprechenden Ausgang unabhängig wird.

Zwei Ansprüche müssten an ein solches Referendum gestellt werden:

  • Die Befragung der Bevölkerung darf nicht manipuliert werden. Genau deshalb muss eine Volksbefragung gut vorbereitet und von objektiven internationalen Beobachtern überwacht werden. Das Krim-Parlament hatte die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) bereits eingeladen, dies zu tun. Die OSZE hat das kommende Referendum abgelehnt, das sie für verfassungswidrig hält.
  • Je nachdem, wie das Referendum ausfällt, müsste sichergestellt werden, dass Minderheiten keine Nachteile erleiden. Bei einer Abspaltung der Krim wären dies die Ukrainer auf der Halbinsel und die Krim-Tataren. Fiele die Entscheidung dagegen für einen Verbleib in der Ukraine aus, so dürfen die Russen auf der Krim nicht diskriminiert werden. In beiden Fällen könnte der Westen entsprechenden Druck auf die Verantwortlichen ausüben, so wie derzeit Druck auf Russland ausgeübt wird.

Gegenwärtig ist die Situation völlig verfahren. Vielleicht ist es im Westen an der Zeit, sich zu fragen, ob man Russland und seinen Anhängern auf der Krim nicht ein Angebot machen sollte - unter ganz eindeutigen Bedingungen. Es stehen schließlich nicht nur Verfassungen auf dem Spiel, sondern Menschenleben. Und die besten Gegenmittel gegen Separatismus sind nicht Verfassungen oder Gewalt. Es sind die Vorteile, die es hat, Bürger eines bestimmten Staates zu sein.

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