Krise in der EU:Mehr Verständnis, mehr Europa

In der Krise stottert das europäische System gewaltig: Die Bürger erwarten, dass die EU handelt wie ein Staat - aber dazu fehlt ihr die Legitimation. Wir haben keine Zeit, um auf "mehr Europa" zu warten, die Mitgliedsstaaten müssen jetzt handeln.

Günter Verheugen

Gewöhnlich, wenn Politiker sich beklagen, dass ihre Politik nicht verstanden wird, haben wir es nicht mit einem Kommunikationsproblem zu tun, sondern es stimmt etwas mit den politischen Inhalten nicht. Von dieser Regel gibt es eine bemerkenswerte Ausnahme: die europäische Politik. Ja: Vieles knirscht in Europa, und doch funktioniert die Staatengemeinschaft respektabel. Nur verstanden wird das nicht.

Krise in der EU

Wie geht es weiter mit der EU? Die Mitgliedstaaten müssten ihre nationale Politik stärker an den europäischen Notwendigkeiten ausrichten.

(Foto: dpa)

Es wird weder innerhalb noch außerhalb der EU wirklich verstanden, und dieses Nicht-Verstehen bezieht sich nicht nur auf die konkreten Entscheidungen, sondern auch auf die Art und Weise, wie sie zustande kommen. Das Nicht-Verstehen fängt mit der Sprachenvielfalt an. Die Politiker, die da auf europäischer Ebene handeln, können nicht direkt mit allen (interessierten) Bürgerinnen und Bürgern kommunizieren.

Sie müssen durch den Filter der jeweiligen nationalen Medien mit dem Ergebnis, dass die Wahrnehmung dessen, was in Brüssel geschieht, in jedem Mitgliedstaat eine andere sein kann, oder dass es Themen gibt, die in einem Mitgliedstaat für Wirbel sorgen, in anderen dagegen nicht einmal erwähnt werden. Neben dem Nicht-Verstehen gibt es noch das Nicht-Wissen in jeder denkbaren Form.

Das Krisenmanagement der EU wird - und das völlig zu Recht - von Beobachtern innerhalb und außerhalb der EU für unzulänglich gehalten. Häufig aber verbindet sich diese berechtigte Kritik mit der unerfüllbaren Erwartung, die EU möge handeln wie ein Staat. Aber das kann sie nicht, weil sie nun mal kein Staat ist, sondern eine Union, oder wie es sehr treffend das Bundesverfassungsgericht formuliert hat: ein Verbund von Staaten, in dem nicht das Ganze bestimmt, was die Teile tun, sondern in dem die Teile vertraglich bestimmen, was das Ganze tun darf.

Kommission ist europäischem Interesse verpflichtet

In normalen Zeiten funktioniert die Arbeitsmethode der EU, die sogenannte Gemeinschaftsmethode, ganz ordentlich. Für die Politikfelder, für die nicht mehr oder nicht mehr allein die Mitgliedsländer zuständig sind, sondern die EU, sind Gemeinschaftsinstitutionen geschaffen worden.

Im Zentrum steht die Kommission mit ihrem exklusiven Vorschlagsrecht. Sie ist allein dem europäischen Interesse verpflichtet. (Und damit hält es die Kommission für gegeben, dass sie das europäische Interesse definiert.) In der Kommission gibt es keine Gewichtung: Jedes Land hat ein Mitglied, jedes Mitglied hat unabhängig von der Größe seines Herkunftslandes die gleichen Rechte und Pflichten, eine Stimme. Ursprünglich als echtes Kollegialorgan konzipiert, ist die Kommission von heute ein Präsidialsystem, in dem der Präsident, so wie etwa die deutsche Kanzlerin, die Richtlinienkompetenz hat.

Die Letztentscheidung über Verträge und Vorschläge der Kommission liegt bei Rat und Parlament. In beiden Institutionen sind die Machtproportionen bewusst zugunsten der kleineren Staaten verschoben. So wird erreicht, dass diese nicht marginalisiert werden. Zudem kann kein großer Staat allein die anderen dominieren. Am Ende der Entscheidungsfindung steht gewöhnlich ein Kompromiss, mit dem die meisten leben können und der in der Regel die deutliche Handschrift der Kommission trägt.

In der heutigen Krise, die längst zu einer tiefen politischen Krise geworden ist, stottert das beschriebene System jedoch gewaltig. Zum einen ist die EU für kurzfristige Krisenreaktionen gar nicht eingerichtet. Zweitens fehlt unterhalb des Europäischen Rates ein starker Rat, der tatsächlich die Macht hätte, die Arbeiten aller Fachräte zu koordinieren, um so eine Politik aus einem Guss zu erreichen. Zudem werden die finanziellen Maßnahmen zur Krisenbekämpfung nicht vom EU-Haushalt gedeckt, sondern durch die nationalen Haushalte geleistet.

Der Weg zu "mehr Europa"

Das hat zu zwei großen Verschiebungen geführt: Das politische Management liegt jetzt praktisch - bis ins kleinste Detail - in den Händen des Europäischen Rats, dem exklusiven Club der Staats- und Regierungschefs. Diese allerdings haben niemals zuvorderst eine europäische Agenda - denn sie müssen Wahlen gewinnen, und diese finden zu Hause statt, in der Regel mit nationalen Themen.

Günter Verheugen

Der SPD-Politiker Günter Verheugen, 68, war von 1999 bis 2009 EU-Kommissar und lehrt heute an der Europa-Universität in Frankfurt/Oder.

(Foto: dpa)

Die andere Machtverschiebung betrifft die Rolle der nationalen Parlamente, die plötzlich ständig mit großen europäischen Fragen konfrontiert sind, aber selbstverständlich dabei ihre nationalen Interessen und parteipolitischen Bedürfnisse fest im Blick haben. Hinzu kommt die Komplexität der Thematik, die nicht nur den einen oder anderen interessierten Bürger überfordern dürfte.

Vor diesem Hintergrund erst gewinnt die Diskussion über "mehr Europa" ihren Sinn. "Mehr Europa" meint gewöhnlich, dass eine einheitliche Währung auf eine einheitliche Politik angewiesen ist, die durch den Übergang zum Beispiel der Haushalts- und Steuerpolitik auf die europäische Ebene hergestellt werden soll.

Gegen "mehr Europa" ist im Grundsatz nichts einzuwenden. Die europäische Integration hat von Anfang an eine starke Dynamik der Vertiefung gezeigt, und es ist eindeutig, dass in der sich rapide verändernden Welt des 21. Jahrhunderts die EU nur noch eine Rolle spielen kann, wenn sie, wo nötig, als Einheit agiert.

Mehr Demokratie auf europäischer Ebene

Die Schwierigkeit mit "mehr Europa" besteht darin, dass jede weitere substanzielle Übertragung von Souveränitätsrechten auf die EU-Ebene, wie etwa das Budgetrecht, in der jetzigen institutionellen Verfassung der EU bereits aus deutscher Sicht an den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichtes scheitern würde, da es mit einem nicht hinnehmbaren Verlust an demokratischer Kontrolle verbunden wäre.

"Mehr Europa" muss deshalb zuallererst mehr Demokratie auf der europäischen Ebene bedeuten. Das wäre ein notwendiger großer Schritt, und es lohnt sich, dafür leidenschaftlich zu werben. Aber dieser Schritt bedarf überall in der EU eines breiten gesellschaftlichen Diskurses. Er kann nicht in der herkömmlichen Art, ohne aktive Teilnahme der Bevölkerung, vollzogen werden.

Wir können jedoch nicht auf "mehr Europa" warten, um die heutige Krise zu bewältigen. Das muss jetzt geschehen, und zwar mit mehr Führungsstärke und Einsicht in die Realitäten als bisher. Ein wichtiger Schritt zu "mehr Europa heute" wäre, wenn die Mitgliedstaaten ihre nationale Politik besser an den europäischen Notwendigkeiten ausrichten würden. Denn sie sind Teil der europäischen Verantwortungsgemeinschaft.

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