Krise im Nordirak:Die Gotteskrieger rücken an die Türkei heran

Türkische Geiseln sind seit Wochen in der Hand der IS-Milizen, Jesiden fliehen über die Grenze in die Türkei: Die Bedrohung durch die Islamisten rückt näher. Doch die Regierung in Ankara tut bisher wenig gegen die Dschihadisten.

Von Christiane Schlötzer

Refugees Fleeing ISIS Offensive Pour Into Kurdistan

Flüchtlinge an einem kurdischen Checkpoint im Irak.

(Foto: Getty Images)

"Niemand nimmt uns ernst, niemand hilft", klagt Muammer Taşdelen. Der Türke hat Sorgenfalten um die Augen und eingefallene Wangen. Schon fast 60 Tage ist seine Schwester in der Hand der radikal-islamischen Terrormiliz Islamischer Staat (IS), irgendwo im Nordirak. Am 11. Juni überfielen IS-Kämpfer das türkische Konsulat in Mossul. Seitdem sind 49 Türken, darunter Taşdelens Schwester und ihr einjähriges Baby, Geiseln der Dschihadisten.

Die türkische Regierung hat bald nach der Geiselnahme eine Nachrichtensperre verhängt. Man erfährt nichts mehr über die Entführten, unter ihnen der türkische Konsul von Mossul. Taşdelen wird von türkischen Medien mit den Worten zitiert: "Sie haben alles den Klan-Chefs überlassen und sich in Ankara nur auf den Präsidentschaftswahlkampf konzentriert." Der verzweifelte Mann will Regierungschef Recep Tayyip Erdoğan und Außenminister Ahmet Davutoğlu vor Gericht ziehen - wegen unterlassener Hilfeleistung.

Islamisten-Gefahr holt Regierung ein

Am Sonntag ist Wahltag in der Türkei, und ausgerechnet jetzt holt die verdrängte Islamisten-Gefahr aus dem benachbarten Irak die Regierung doch noch ein. "IS-Alarm in Ankara" titelte die Oppositionszeitung Yurt am Freitag. Das Massenblatt Hürriyet berichtete ausführlich über den Vormarsch der IS-Kämpfer auf die Kurdenmetropole Erbil im Nordirak.

Mit den irakischen Kurden hat die Türkei im Gegensatz zu früher gute Beziehungen. In jüngster Zeit hat sie sogar damit begonnen, den Kurden dabei zu helfen, ihr Öl in den Westen zu exportieren - gegen den Willen der irakischen Zentralregierung in Bagdad. Der türkische Konsul in Erbil, Mehmet Akif Inan, sagte einem Hürriyet-Reporter, er plane die Evakuierung seiner diplomatischen Vertretung, sollten die IS-Kämpfer Erbil erobern.

Türkische Luftwaffe fliegt Aufklärungsmissionen

In Ankara trafen sich unterdessen Erdoğan, der Außenminister, die Spitzen des Militärs und der Geheimdienstchef zur Krisensitzung. Es ging um die Sicherheit der türkischen Grenzen. Die türkische Luftwaffe fliegt nach Medienberichten schon seit einer Weile "Aufklärungsmissionen" über dem Nordirak. Nicht nur wegen der 49 Geiseln in Händen der IS-Kämpfer sind dem türkischen Militär und der Regierung aber die Hände gebunden. Ein Eingreifen des Nato-Landes in den Konflikt im Irak würde zu einer neuen Eskalation führen.

Dafür wäre in Ankara auch ein Parlamentsbeschluss nötig. Bis Mitte Oktober gilt zwar theoretisch noch eine Parlamentsermächtigung aus dem vergangenen Jahr. Die gestattet es der Armee, Kämpfer der kurdischen PKK im Nordirak zu verfolgen. In der Türkei gilt die PKK als Terrororganisation, auch wenn es inzwischen "Friedensgespräche" mit PKK-Chef Abdullah Öcalan gibt.

Jesiden fliehen in die Türkei

Nur: Im Irak unterstützt nun auch die PKK die irakischen Kurden im Kampf gegen die Steinzeit-Kalifen des IS. Dies an sich ist schon ungewöhnlich. Denn in der Vergangenheit haben sich die Kurden- Kämpfer auch gegenseitig bekriegt.

Derweil erreichen die ersten Flüchtlinge des neuen Konflikts die Türkei. In Silopi, in der Provinz Şirnak, im Dreiländereck zwischen Syrien, der Türkei und Irak, kamen bis Freitag rund 150 Jesiden an, auf der Flucht vor den IS-Militanten. Tausende sollen angeblich auf der anderen Seite der Grenze warten, berichten zumindest türkische Medien. Dagegen sagte Davutoğlu am Donnerstagabend in einem Live-Interview des türkischen Senders NTV: "Nicht ein Jeside wartet an unserer Grenze."

Türkei fliegt Hilfsgüter ins Konfliktgebiet

Davutoğlu berichtete auch, die Türkei lasse mit irakischen Hubschraubern Hilfsgüter für Zehntausende Jesiden in Sindschar abwerfen, die vor den Islamisten in die unwirtliche Bergregion geflohen sind. Im Nordirak lebt die größte Gemeinde dieser religiösen Minderheit, deren Glaube Elemente des Christentums, des Judentums und des Islam verbindet.

Die türkische Opposition hat der Regierung erst jüngst wieder vorgeworfen, sie selbst habe die IS-Miliz mit groß gemacht. Schließlich hindere sie Dschihadisten nicht daran, nach Syrien oder Irak zu reisen. Davutoğlu nannte diese Kritik nun "gewissenslos".

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