Süddeutsche Zeitung

Krise im Irak:Warum die Kurden die großen Gewinner sind

Der Vormarsch der radikalislamischen Isis-Kämpfer verteilt die Karten im irakischen Machtpoker neu. Droht eine Dreiteilung des Landes? Und wie steht die sunnitische Bevölkerung zu den Dschihadisten? SZ-Korrespondent Tomas Avenarius war gerade im Nordirak und beantwortet die wichtigsten Fragen.

Tomas Avenarius berichtet seit 2005 für die Süddeutsche Zeitung von Kairo aus über den Nahen Osten. Er ist gerade von einer Recherche-Reise in den Nordirak zurückgekehrt.

SZ.de: Wie ist die Stimmung unter den Kurden in Erbil und Kirkuk?

Tomas Avenarius: Die Kurden triumphieren nicht, sondern sie halten sich in der Öffentlichkeit zurück. Aber sie wissen, dass die jetzige Situation sie ihrem Traum von der Unabhängigkeit so nahe bringt wie nie zuvor. Seit dem Vormarsch der Kämpfer des "Islamischen Staates im Irak und in Großsyrien" (Isis) droht dem Irak ein Bürgerkrieg zwischen Schiiten und Sunniten. Das ist das Beste, was den Kurden passieren konnte. Sie müssen womöglich nicht mal Gewalt anwenden, um ihr Ziel der Unabhängigkeit zu erreichen.

Dann sind die Kurden wirklich die "ganz großen Gewinner" in diesem Machtkampf?

Durch den Vormarsch von Isis und den sunnitischen Stammeskriegern sind den Kurden riesige Gebiete zugefallen. Die Landstriche erstrecken sich tief in den Zentralirak, laufen am östlichen Rand hinunter entlang der iranischen Grenze. Zudem sind ihnen Unmengen an Waffen in die Hände gefallen. Mir hat ein Oberst der Peschmerga (Bezeichnung für irakisch-kurdische Kämpfer, Anm. d. Red.) es so beschrieben: "Panzer, Geschütze, Lkws. Alles. Wir haben jetzt mehr, als wir brauchen. Und das umsonst!"

Wie konnten die Kurden Kirkuk so schnell einnehmen und so große Gebiete erobern?

Bagdads Armee hat Kirkuk vergangene Woche Hals über Kopf verlassen, nachdem Kämpfer der Isis und deren sunnitische Verbündete die zweitgrößte Stadt Mossul erobert hatten. Bevor die Terror-Bataillone an den Ausläufern Kirkuks überhaupt zu sehen waren, übergaben die demoralisierten Soldaten ihre Waffen den Kurden und flohen. Die Kurdenführer haben die Gelegenheit sofort erkannt und Kirkuk besetzt. Peschmerga-Kämpfer kontrollieren die Stadt und alle anderen umstrittenen Gebiete, die ihnen Bagdad seit 2003 beharrlich verweigert.

In Kirkuk befanden sich Kasernen der irakischen Armee, zu denen nun die Kurden Zugang haben. Die Stadt liegt in einer Ebene und auf den Straßen sieht man nun Lastwagen, die die Ausrüstung in die Berge bringen. Ähnlich war es nach dem Sturz von Saddam Hussein - auch damals haben die Kurden die erbeuteten Waffen in Sicherheit gebracht.

Die Kurden nennen Kirkuk gern das "kurdische Jerusalem".

Das ist Folklore. Kirkuk ist vor allem eine Ölstadt. In der Provinz rundherum lagern riesige Erdölvorkommen, der Irak ist einer der größten Ölproduzenten weltweit. Nach dem Einmarsch der Amerikaner 2003 wurde Kirkuk den Kurden verweigert, es stand unter Verwaltung der Zentralregierung in Bagdad. Die Stadt ist zwar mehrheitlich kurdisch, aber eben auch Heimat von Arabern, Turkmenen, Christen. Zur Einigung zwischen Kurden und arabischen Irakern, auf die Europa, USA und die Vereinten Nationen gehofft haben, kam es aber nie. Ohne Kirkuk und sein Öl wäre ein unabhängiges Kurdistan wirtschaftlich nicht lebensfähig gewesen. Jetzt aber ist plötzlich alles anders.

Die Kurden kündigen an, Kirkuk nie mehr aufzugeben. Können sie sich so gut verteidigen?

Es gibt schätzungsweise 200 000 Peschmerga-Kämpfer und die sind wirklich sehr gut ausgebildet. Sie haben viele Waffen, noch aus Saddams Zeiten und auch von den Amerikanern. Die USA haben die kurdische Armee und auch deren Spezialeinheiten gut ausgebildet. Ein solches Desaster wie bei der irakischen Armee würde denen nie passieren.

Welche Rolle spielen die Kurden in dem drohenden Bürgerkrieg zwischen Sunniten und Schiiten?

Sie unterstützen keine der beiden Seiten, sondern halten sich heraus. Sie verteidigen ihre Gebiete, aber sind nicht parteiisch. Einer der vielen Fehler des schiitischen Premiers Nuri al-Maliki war es auch, die Peschmerga nie in die irakische Armee zu integrieren. So kann er nun deren Mithilfe nicht einfordern. In dem Machtvakuum, das bereits existiert und das noch lange herrschen wird, präsentieren sich die irakischen Kurden als zuverlässiger Partner für die USA, die Europäer oder auch Israel. Zu all diesen Akteuren haben sie gute Beziehungen. Und ihre Politiker sind klug genug, nicht sofort die Unabhängigkeit zu fordern.

Die Vorbehalte gegen einen eigenen Kurdenstaat sind groß. Warum?

Türkei und Iran fürchten, dass ihre eigenen kurdischen Minderheiten auf den Geschmack kommen und ebenso ihren Staat fordern. Die Menschen in Syrien haben andere Probleme, aber die dort lebenden Kurden könnten fordern, sich den irakischen Brüdern anschließen zu wollen. Der Westen will ebenso wenig wie die Golfstaaten, dass die Grenzen im Nahen Osten neu gezogen werden und weitere Unruhe entsteht.

Im Kurdenstaat im Nordirak herrscht Sicherheit und eine gute Infrastruktur - dort hat man alles, was im Rest des Landes fehlt.

Nach dem Kuwait-Krieg 1991 setzte der Westen eine Flugverbotszone im Nordirak durch, was dazu führte, dass Saddam hier kaum mehr Einfluss hatte. Als die Amerikaner 2003 einmarschiert sind, blieben die Kurden außen vor und bauten im Norden ihre autonome Region aus. Eigene Verfassung, eigener Präsident, eigene Regierung, eigenes Parlament - das existiert alles im Rahmen der irakischen Verfassung, als Teil eines föderalen Staates. Die Kurdenrepublik war immer eine Insel der Stabilität, die Regierung dort hat beste Beziehungen zur Türkei und auch zu den USA. Es gab dort ein bisschen Öl und auch einige Pipelines - nun haben sie in der Kirkuk-Region Zugang zu viel mehr Öl. Da fehlen noch die Pipelines, aber dann könnte da ein reicher Staat entstehen.

Ist eine Dreiteilung des Iraks in getrennte Gebiete für Schiiten, Sunniten und Kurden unvermeidlich?

Ich wäre da vorsichtig. Natürlich sind die Grenzen von vielen arabischen Staaten künstlich gezogen, aber ihr Beharrungsvermögen ist erstaunlich groß. Der Zerfall Syriens wurde ja auch schon vor Jahren prophezeit. Ich halte aber eine Abspaltung der Kurden im Norden für möglich. Sollte sich der Staat weiter auflösen, so wären die Bruchlinien aber klar. Die Schiiten bekämen den Süden des Iraks mit ihren heiligen Stätten wie Kerbela, wo das Schiitentum geboren wurde, oder Nadschaf mit seinem von einer goldenen Kuppel gekrönten Schrein. Die Stadt mit den jahrhundertealten theologischen Seminaren und den riesigen Friedhöfen ist der Vatikan der Schiiten. Darüber hinaus gibt es Zugang zum Meer und die größten Ölvorkommen. Schwieriger wäre es für die Sunniten, denen es in der Mitte und im Westen des Landes an allem fehlen würde. Es entstünde ein Staat ohne wirtschaftliche Grundlage, was keiner in der internationalen Gemeinschaft wollen kann.

Sie haben auch die Flüchtlingslager in der Nähe von Erbil besucht. Was haben die Flüchtlinge Ihnen erzählt?

Ich habe unter anderem mit Haja Amscha gesprochen, einer 50-jährigen Sunnitin aus Mossul. Sie sagte mir: "Isis und die sunnitischen Kämpfer haben ganze Stadtviertel umstellt und abgeriegelt, Banken und Behörden überfallen". Sie sei nachts geflohen, weil überall geschossen wurde. Sie scheint nicht wirklich zu wissen, vor wem sie davonrennt. Raed, ein anderer sunnitischer Flüchtling, sagt: "Soldaten, Polizisten und andere Uniformierte haben die Isis-Männer sofort getötet, ihre Waffen und Ausrüstung genommen. Den normalen Einwohnern haben sie eigentlich nichts getan."

Oft ist zu hören, dass die sunnitischen Iraker voller Hass auf Premier Maliki und die Schiiten sind.

Viele haben weniger Angst vor den Isis-Kämpfern als vor der Armee ihrer eigenen Regierung. Denn Mossul ist eine Sunniten-Stadt, die Regierung und die Armee aber sind weitgehend schiitisch. Clement Rouquette, der Leiter des Flüchtlingslagers, sagte mir: "Die Ersten kehren doch schon wieder nach Mossul zurück. Ich glaube, viele sind nur geflohen, weil sie fürchteten, dass die Regierungstruppen im Gegenzug die Stadt bombardieren würden, um die Isis-Kämpfer zu treffen."

Wird Isis von der Bevölkerung unterstützt?

Was im Irak geschieht, ist ein Aufstand der Sunniten. Die Isis-Kämpfer sind eine kleine Minderheit, aber die Bannerträger, die auf allen Bildern zu sehen sind. Der Vormarsch wäre nicht möglich, wenn sich nicht auch Anhänger von Saddam Hussein, ehemalige Soldaten und sunnitische Stämme beteiligen würden (Hintergründe hier). Ohne Unterstützung der Bevölkerung ginge das gar nicht und es ist die Verachtung für Premier Maliki, die das befeuert.

Wie wird es in den kommenden Tagen und Wochen weitergehen?

Dieser Konflikt wird lange dauern, eher Jahre als nur Monate. Die Lage wird uneinheitlich und unübersichtlich bleiben. Die USA haben trotz ihrer enormen Mittel Jahre gebraucht, um die Lage zu stabilisieren - und die irakische Armee hat nicht mal eine Luftwaffe. Wie schlecht Moral und Ausbildung sind, hat die Welt ja gerade gesehen. Die echten Probleme des Iraks, wie der Wiederaufbau der Infrastruktur und des Bildungswesens, werden ungelöst bleiben. Weiterhin gibt es kein Ölgesetz, das die Erlöse verteilen würde. Und die Wirtschaft wird wohl auch geschwächt, wenn alle nur ans Kämpfen denken - dabei war der Irak zuletzt wieder einer der größten Ölproduzenten der Welt. Es ist wirklich eine Tragödie für das Land.

Die Fragen stellte Matthias Kolb.

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