Krise des Westens:2017 - das Jahr, in dem das Autoritäre zu ungeahnter Stärke fand

Krise des Westens: Nicht verwechseln! Das Autoritäre hat viele Gesichter. Von oben links im Uhrzeigersinn: Erdoğan, Gauland, Putin, Strache, Trump, Kaczyński

Nicht verwechseln! Das Autoritäre hat viele Gesichter. Von oben links im Uhrzeigersinn: Erdoğan, Gauland, Putin, Strache, Trump, Kaczyński

(Foto: AFP, AP, Reuters, dpa, Imago)

Dafür gibt es viele Erklärungen. Die Ungleichheit in der Gesellschaft. Oder Migration. Doch diese greifen zu kurz. Der Kulturkampf hat gerade erst begonnen.

Von Sebastian Gierke

Gestritten wird früh genug. Deshalb unbestreitbare Fakten über das Jahr 2017 an den Anfang:

  • Die AfD ist in den Bundestag eingezogen, hat 12,6 Prozent der Zweitstimmen bekommen.
  • Donald Trump ist Präsident der USA.
  • In Österreich haben 1 316 442 Menschen FPÖ gewählt. Das entspricht 25,97 Prozent der gültigen Stimmen.
  • In Polen bringt eine nationalpopulistische Regierung die Justiz Stück für Stück unter ihre Kontrolle.
  • In Russland, der Türkei, Indien oder Ungarn sorgen autoritäre Führergestalten und Demagogen für gesellschaftliche Umwälzungen.

​Soziale und gesellschaftliche Ordnung entsteht durch sich verändernde Diskurse. Gerade ändert sich viel. Westliche, liberale Gesellschaften geraten unter Druck durch das Autoritäre. Das "Zeitalter des Zorns" wird ausgerufen, in dem sich autoritäre Führungspersönlichkeiten den Zynismus und die Unzufriedenheit zorniger Mehrheiten zu Nutzen machen. Von der "autoritären Revolte" ist die Rede, einer "völkischen Rebellion", der "Europadämmerung".

Erklärungen für das Erstarken des Autoritären existieren viele. Ein paar Beispiele:

Flüchtlings- und Migrationspolitik

Wird nicht nur in Deutschland meist als Erstes genannt, wenn eine Erklärung für das Erstarken rechtskonservativer Kräfte gesucht wird. Sowohl von diesen Kräften selbst als auch von ihren Gegnern. Die Hilfesuchenden, die vor allem seit dem Sommer 2015 nach Deutschland gekommen sind, dienen in der Argumentation aber oftmals nur als Projektionsfläche. Der Mensch, das einzelne Schicksal spielt keine Rolle, verschwindet so aus der öffentlichen Diskussion. Übrig bleibt das grundsätzlich Fremde, das nicht "zu uns" passe und das zur Mobilisierungshilfe für Rechtspopulisten wird.

Ungleichheit

Von der politischen Linken wird oft Ungleichheit als Erklärung für die Wahlerfolge rechter Parteien und autoritärer Demagogen genannt. Wer finanziell abgehängt sei, wer in der Arbeitswelt nicht fair behandelt werde, wer die Ungleichheit zwischen Arm und Reich, zwischen Oben und Unten als obszön wahrnehme, der mache seinem Unmut spätestens in der Wahlkabine Luft, heißt es dann.

Tatsächlich ist auch in Deutschland die finanzielle Ungleichheit groß. Die ärmeren 50 Prozent der Deutschen besitzen nur 2,5 Prozent des gesamten Nettovermögens aller privaten Haushalte. Und die Möglichkeiten, sozial und beruflich aufzusteigen, sind kleiner geworden. Wer heute arm geboren wird, bleibt das viel häufiger als einer, der 1960 arm geboren wurde. Das alles ist für den gesellschaftlichen Zusammenhalt gefährlich. Es passt aber nicht zur Tatsache, dass beispielsweise die Wähler der AfD im Vergleich zur Gesamtbevölkerung wirtschaftlich gar nicht abgehängt sind.

Das gebrochene Versprechen des Liberalismus

Die Klage über die wachsende Ungleichheit führt direkt zur Klage über das Verschwinden individueller Möglichkeit, diese Ungleichheit zu beseitigen. Und von dort zur Krise des Liberalismus. So glaubt der Literaturwissenschaftler Albrecht Koschorke, dass der Liberalismus des Jahres 2017 kaum mehr ein Zukunftsversprechen beinhalte, keinen "Fortschritt für alle", wie ihn die industrielle Moderne noch glaubhaft zusichern konnte. Doch wenn der Liberalismus kulturelle und ökonomische Teilhabe für alle in der Zukunft nicht mehr sicherstellen kann, gerät er in die Krise.

Die Menschen, vor allem die Mitte der Gesellschaft, wenden sich ab. Sie wenden sich einerseits gegen die, die selbst scheinbar alles haben und ihnen Versprechen machen. Versprechen, die sie nicht einhalten können. Und gegen die, die etwas von dem wollen, was sie sich selbst hart erarbeitet haen. Wenn der Kuchen nicht mehr größer wird, wird der Verteilungskampf härter. Die Angst wächst. Die Angst, dass die Grundlagen der eigenen Lebensweise nicht mehr gesichert sind.

Niedergang demokratischer Institutionen

Es geht um eine Verschiebung von Macht. Diese schwindet bei demokratischen Institutionen, nationalen Parlamenten beispielsweise, und sammelt sich bei Unternehmen, Zentralbanken und internationalen Gerichtshöfen. So erklärt beispielsweise der britische Publizist Kenan Malik, dass Rechtspopulismus vor allem deshalb erstarkt sei, weil gut organisierte Gegner fehlten. Organisationen wie Gewerkschaften und andere soziale Bewegungen seien es gewesen, die Menschen eine politische Stimme gegeben hätten, die einer entfesselten Wirtschaft etwas entgegengesetzt hätten. Diese Stimme sei allerdings verstummt.

Keines dieser ökonomischen oder politischen Erklärungsmuster ist falsch. Sie greifen jedoch zu kurz. Querverbindungen werden nicht gesehen. Und durch die Konzentration auf Flüchtlinge oder den ökonomischen Status gerät anderes aus dem Blick: der Kulturkampf zum Beispiel, der gerade erst begonnen hat. Flüchtlinge oder Ungleichheit werden in diesem Kampf instrumentalisiert, sie sind ein Symptom, nicht die Ursache.

Die Wut auf "die da oben"

Um was es in diesem Kampf geht, lässt sich nicht in Statistiken und Tabellen ausdrücken. Dieser Kampf wird auf der Gefühlsebene geführt, ein Kampf verschiedener Strömungen innerhalb der Gesellschaft. Es geht um die in Teilen der Bevölkerung weit verbreitete Wut darüber, nicht wahrgenommen zu werden. Die Wut auf das imaginierte Establishment, auf "die da oben", denen die "normalen Menschen" völlig egal seien. Immer mehr Menschen fühlen sich gekränkt, kulturell abgehängt.

Warum gerade jetzt?

Globalisierung und Postmoderne

Bildung, Wohlstand, medizinische Versorgung, Lebensdauer: Den Menschen geht es weltweit besser als je zuvor. Tatsächlich gibt es Men­schen, die eindeutig von der Glo­ba­li­sie­rung pro­fi­tiert ha­ben. Sie sind gut ausgebildet, haben welt­weit berufliche, auch freundschaftliche Kontakte, leben in teuren Innenstäd­ten, pflegen eine kosmopolitisch-polyglotte, liberale Identität. Und diskutieren, oft in englischen Begriffen, zum Beispiel über Gendermainstreaming oder den Veggieday.

Und es gibt Menschen, die glauben, diese Klas­se der gut gekleideten Mülltrenner-Elite habe sie be­tro­gen. Das sind Menschen, die nicht von der Globalisierung profitieren. Für sie entwickelt Modernisierung keine eigene Legitimität. Sie wollen sich das, was ihnen von den Globalisten als Fortschritt verkauft wird, nicht aufzwingen lassen, scheuen vor gesellschaftlichen Veränderungen zurück. Donald Trump hat das erkannt und deshalb versprochen, die Globalisierung zurückzudrehen: America first.

Eine Welt, die moderner wird, liberaler, eine solche Welt wächst. Sie wird immer wieder neu entworfen. Mit jeder Entdeckung wird sie komplizierter, das Individuum entgrenzter und einsamer. Ambivalenz ertragen zu können, ist in einer solchen Welt wichtig. Das Freiheitsgefühl der Modernisierung erzeugt Ohnmacht, sie wird dann als Zumutung empfunden, weil sich die eigene Stellung in der Gesellschaft ständig verändert, weil sich die Regeln ständig verändern. "Die Last der Befreiung", nennt das der Intellektuelle Pankaj Mishra.

Grundsätzliche Gesellschaftskritik, lange ein Projekt der Moderne, ist genau deshalb heute auch auf der Seite der reaktionären Rechten und der Autoritären zu finden. Die Forderung: Autorität statt Autonomie. Das Autoritäre lockt mit einfachen Wahrheiten und Eindeutigkeit. Mit einem aggressiven: Wir sind zu weit gegangen. Und der Möglichkeit, die Kompliziertheit der Welt als persönliche Kränkung auffassen zu dürfen. Ressentiments schrumpfen die Welt. Gleichberechtigung von Frau und Mann? Zerstört unsere Tradition! Islam? Eine Religion des Terrors! Europäisierung? Davon profitieren doch nur die faulen Südländer! Die moderne, liberale Welt wird so zum Feind. In solch schlichten Äußerungen findet der Kulturkampf dann einen populären Ausdruck.

Das Post-Faktische

Eng mit dem postmodernen Verschwinden von der einen Wahrheit hängt ein berüchtigtes Phänomen zusammen, das vor allem durch Trump viel Aufmerksamkeit erfahren hat. Das Post-Faktische oder schlicht: die Lüge. Unter dieser Überschrift werden beispielsweise Phänomene wie Zuwanderer, Flüchtlinge, Europäisierung, Terrorismus vermischt. Plötzlich existieren keine Fakten mehr, sondern nur noch Interpretationen. Autoritäre Führergestalten wie Wladimir Putin und Donald Trump nutzen das politisch aus. Fakten ordnen sie ihrer Agenda unter. "Zuerst die Ideologie, dann die Fakten", fasst der Philosoph Philipp Hübl zusammen.

Konzentration auf Identitätspolitik

2017 wurde auch viel über Rassenidentität gestritten, Genderthemen, sexuelle Minderheiten oder das Für und Wider von gesellschaftlicher Vielfalt. Zu viel?

Putin oder Trump versprechen ihren Anhängern jedenfalls eine eigene Identität, indem sie sie, im Vergleich zu anderen, als Gruppe aufwerten. So lässt sich das menschliche Bedürfnis befriedigen, etwas Eigenes einzuhegen und sich nach außen abzugrenzen.

Mark Lilla, Professor für Ideengeschichte in New York, behauptet, die liberale Linke in den USA, hätte dafür das Feld bereitet. Sein Text "The End of Identity Liberalism", im November 2016 in der New York Times erschienen, war 2017 einer der meist diskutierten. Lilla glaubt, die links-liberalen Kosmopoliten in Gesellschaft und Politik hätten sich zu sehr auf Identitätspolitik konzentriert, und darüber die wichtigeren Kämpfe vernachlässigt. Zum Beispiel den um materielle Gerechtigkeit.

Sigmar Gabriel sieht das ähnlich, genau wie der Politikwissenschaftler Claus Leggewie: Die Linke habe die soziale Frage leichtfertig vernachlässigt, es gehe nicht mehr um Klassenfragen, sondern vor allem um Identitätsfragen. Prominenter Gegner dieser Meinung ist der französische Soziologe und Philosoph Didier Eribon, dessen schon 2016 erschienenes Buch "Rückkehr nach Reims" 2017 zum Bestseller wurde. Er insistiert, man dürfe die Kämpfe der Identitätspolitik nicht dem sozialen und wirtschaftlichen Kampf entgegenstellen.

Auf der Rechten reiben sie sich ob der Uneinigkeit die Hände: So glaubt der rechte Wissenschaftler Benedikt Kaiser, die Linke gebe ihre soziale Erzählung von Gerechtigkeit und Solidarität auf. Er sieht eine historische Chance für die Rechten, diese zu übernehmen.

Eine Diskussion mit offenem Ausgang.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: