Korruptionsaffäre um Lula:Brasiliens Ex-Präsident inszeniert eine Telenovela

Korruptionsaffäre um Lula: Erst 26 Stunden nach Ablauf des Behörden-Ultimatums lässt sich Lula verhaften - und grüßt die Anhänger.

Erst 26 Stunden nach Ablauf des Behörden-Ultimatums lässt sich Lula verhaften - und grüßt die Anhänger.

(Foto: AFP)
  • Der Prozess gegen den ehemaligen Staatschef Luiz Inácio Lula da Silva wühlt Brasilien seit Monaten auf.
  • Der 72-Jährige ist wegen Korruption zu zwölf Jahren Haft verurteilt worden. Doch er gibt selbst im Moment seiner Verhaftung noch den Ton an.
  • Erst 26 Stunden nach der von den Behörden gesetzten Frist verlässt Lula das Gewerkschaftsgebäude und stellt sich den Behörden.

Von Boris Herrmann, Rio de Janeiro

Am Ende hat er sich also doch der Polizei gestellt. Aber auf seine Weise. Das war ihm wichtig, er sieht sich ja weiterhin als Wahlkämpfer und als legitimen Präsidentschaftskandidaten. Luiz Inácio Lula da Silva, 72, ging am späten Samstagabend brasilianischer Zeit als ein Mann ins Gefängnis, der selbst im Moment seiner Verhaftung noch den Ton angab.

Zuvor hat er seinem Land, das er von 2003 bis 2010 regiert hatte, noch einmal ein Drama beschert, das zweifellos in die Fernsehgeschichte dieses fernsehverrückten Volkes eingehen wird. Mehrere Sender übertrugen zwei Tage lang nahezu rund um die Uhr vom Vorplatz der Metallgewerkschaft in São Bernardo do Campo, einem Vorort São Paulos. Dort verschanzte sich Lula von Donnerstagnachmittag an, unmittelbar nachdem der Bundesrichter Sérgio Moro einen Haftbefehl gegen ihn erlassen hatte.

Dieses Gebäude war immer Lulas zweites Zuhause, sein politisches Habitat. Jetzt ist es auch seine letzte Trutzburg geworden. Hier begann vor rund vier Jahrzehnten seine erstaunliche Karriere vom Schuhputzer zum Gewerkschaftsführer, zum populärsten Präsidenten Brasiliens, zum Häuptling aller lateinamerikanischen Linken. Und deshalb ist es auch kein Zufall, sondern ein Statement, dass er hier seine vorerst letzten beiden Nächte in Freiheit verbrachte. Zum Abschied rief er seinen Anhängern zu: "Der Tod eines Kämpfers stoppt keine Revolution."

Mit der Entscheidung des Obersten Gerichts war der Weg frei für Lulas Festnahme

Der Prozess gegen den ehemaligen Staatschef wühlt die größte Demokratie Südamerikas seit Monaten auf. Der berüchtigte Korruptionsjäger Moro aus der südbrasilianischen Stadt Curitiba hatte Lula im Juli vergangenen Jahres zu neuneinhalb Jahren Haft wegen Korruption und Geldwäsche verurteilt. Ein Berufungsgericht in Porto Alegre erhöhte die Strafe im Januar auf zwölf Jahre und einen Monat. Mitte vergangener Woche wies das Oberste Gericht in Brasília einen Antrag der Verteidigung zurück, eigens wegen Lula eine seit zwei Jahren bewährte Regel zu ändern, wonach ein zweitinstanzliches Urteil auch dann vollstreckt werden kann, wenn es noch nicht rechtskräftig ist. Damit soll verhindert werden, dass sich derartige Verfahren ewig in die Länge ziehen, so wie es jahrzehntelang in Brasilien üblich war. Mit der Entscheidung des Obersten Gerichts war der Weg frei für Lulas Festnahme.

Moro, 44, verurteilt im Rahmen der Anti-Korruptionsoffensive Lava Jato ("Autowäsche") einflussreiche Unternehmer und Spitzenpolitiker nahezu aller Parteien wie am Fließband. Er bringt damit nicht nur ein eingespieltes Klüngelsystem ins Wanken, sondern den gesamten Staatsapparat. Für viele Brasilianer ist er ein Nationalheld. Seine Kritiker halten ihn für einen konservativen Hexenjäger, dem es stets nur um eines ging: um den Skalp Lulas.

Viel schneller als allgemein vermutet, als ob er es nicht mehr erwarten konnte, unterzeichnete Moro am Donnerstag den Haftbefehl gegen den weiterhin beliebtesten Politiker Brasiliens. Er setzte ihm eine Frist von 24 Stunden, um sich freiwillig bei der Polizei zu melden. Dieses Ultimatum lief am Freitag um Punkt 17 Uhr aus. Vor dem Gewerkschaftsgebäude in São Bernardo zählten die Lula-Fans die letzten Sekunden als Countdown herab. Zu sagen, das halbe Land habe gespannt vor den Bildschirmen gesessen, wäre wohl untertrieben. Es sah aus, als würde Brasilien noch einmal die Mondlandung nachspielen.

Die PT teilte mit: Lula bleibe ihr Kandidat

Um 17 Uhr passierte dann erst einmal: gar nichts. Lula ließ sich weder abführen, noch erhörte er die Rufe, zu seinen Anhängern vor dem Gewerkschaftshaus zu sprechen. Größtenteils Sympathisanten seiner Arbeiterpartei PT hatten sich dort versammelt, um eine Art menschlichen Schutzwall gegen die Festnahme zu bilden. Manche brachten Schlafmatten mit, andere bauten eine mobile Küche auf. Sie ahnten: Dieser Showdown zwischen den Erzfeinden Moro und Lula würde etwas länger dauern. Die PT teilte unterdessen trotzig mit, dass es keinen Plan B für die Präsidentschaftswahl im Oktober gebe. Lula bleibe ihr Kandidat, selbst wenn er seinen Wahlkampf aus der Zelle fortführen müsse. Die Frist für die Einschreibung endet im August. Erst danach kann ein Wahlgericht entscheiden, ob er tatsächlich antreten darf. Im Moment stehen die Chancen denkbar schlecht. Aber Lula gibt nicht auf. Er hofft, dass er bis zur Wahl wieder frei ist.

Als Wahlkämpfer macht ihm keiner etwas vor. Zu seiner Kampagne gehörte offenbar auch der Plan, sich im Gewerkschaftshaus von der Polizei abholen zu lassen. 1980 war er als Streikführer in São Bernardo do Campo schon einmal verhaftet worden, damals noch von Schergen der Militärdiktatur. Der These Lulas, wonach sich die Ereignisse gerade wiederholen und er erneut politisch verfolgt wird, hätten solche Bilder gewiss nicht geschadet. Die Polizei tat ihm aber nicht den Gefallen, ihn mit Gewalt aus seinem Refugium zu zerren.

Das harte Urteil ist auch bei unabhängigen Beobachtern hoch umstritten

Die Frage, ob Lula Opfer eines politischen Prozesses ist, spaltet die Nation. Fest steht: Das harte Urteil ist auch bei unabhängigen Beobachtern hoch umstritten, weil es auf wackeligen Belegen fußt. Moro sah es als erwiesen an, dass Lula in seiner Amtszeit den Baukonzern OAS bevorteilte und im Gegenzug ein Luxus-Apartment erhielt. Der Richter räumte aber ein, dass es kein Dokument gibt, in dem der Angeklagte als Besitzer der Immobilie auftaucht. Lula, auf den noch sechs weitere Korruptionsverfahren warten, punktet bei seinen Leuten deshalb mit dem Satz: "Ich bin der einzige Mensch der Welt, der für eine Wohnung verurteilt wird, die ihm nicht gehört."

Den ganzen Samstag über sollen seine Anwälte über die Modalitäten der Festnahme verhandelt haben. Dabei ging es angeblich auch um einen Fernseher in der Zelle sowie um die Zusage, dass er seine Haare behält. Vor allem aber ging es um die Botschaft: Lula, nicht Moro diktiert hier die Konditionen. Ein erster Versuch, sich zu stellen, scheiterte am frühen Nachmittag am Widerstand seiner Anhänger - sie ließen ihn nicht aus dem Haus. Zuvor hatte Lula noch eine ökumenische Messe für seine verstorbene Ehefrau veranstaltet, die er für seine vorerst letzte politische Rede nutzte, eine Abrechnung mit der Justiz. 26 Stunden nach Fristende verließ er dann die Gewerkschaft und stellte sich den Behörden. Als er im Polizeihubschrauber auf dem Gefängnisdach in Curitiba aufsetzte, unterbrach der TV-Marktführer Globo sogar seine heilige Prime-Time-Telenovela. Im Hintergrund stiegen die Silvesterraketen der Lula-Hasser in den Nachthimmel. Eigentlich ein Bild für die Ewigkeit. Aber wer Brasilien kennt, der ahnt: Dieses Real-Crime-Epos ist noch nicht zu Ende.

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