Deutschland hält sich zugute, die Nazi- und Holocaust-Vergangenheit nach dem Zweiten Weltkrieg selbstkritisch aufgearbeitet zu haben. Auch in Nachbarländern wird dies teilweise als Erklärung dafür herangezogen, warum in der Bundesrepublik die radikale bis extreme Rechte langsamer vorankommt als etwa in Italien, wo sie in Giorgia Meloni derzeit die Ministerpräsidentin stellt. Betrachtet man die deutsche Vergangenheitsbewältigung jedoch genauer, fällt eine eklatante Schwäche auf: die ungenügende Ahndung der Verbrechen durch die Justiz. Die beiden Autoren Marco De Paolis und Paolo Pezzino zeigen das in ihrem Buch anhand eines konkreten Falles auf: des Massakers der 16. SS-Panzergrenadier-Division „Reichsführer SS“ im Herbst 1944 in Dörfern um Marzabotto am Monte Sole herum. Die deutsche Justiz kommt dabei nicht gut weg – die italienische allerdings für lange Phasen auch nicht.
Im September 1944 rückten die alliierten Streitkräfte, insbesondere die US-Armee, von Süden gegen die deutschen Truppen in Italien vor. Eine Verteidigungslinie, die sogenannte Gotenstellung, sollte die Alliierten aufhalten. Die Gefechte tobten auch im nördlichen Apennin bei Marzabotto, wo die Alliierten nach Bologna durchbrechen wollten. Zugleich kämpften italienische Partisanen gegen die deutsche Armee und jene italienischen Soldaten, die noch unter dem Kommando des mittlerweile am Gardasee residierenden faschistischen Diktators Benito Mussolini standen.
Fast 800 Tote allein rund um den Monte Sole
Deutsche Soldaten, insbesondere SS-Einheiten, rächten sich auf ihrem Rückzug in vielen Gegenden Italiens an den Partisanen, indem sie Massaker an der Zivilbevölkerung verübten. Ganze Dörfer mit Frauen, Kindern und Alten wurden ausgerottet. Allein in den Weilern und Gehöften um den Monte Sole tötete die SS fast 800 Menschen, unter ihnen mehr als 200 Kinder unter 13 Jahren.

De Paolis, Generalstaatsanwalt am militärischen Berufungsgericht in Rom, und der Historiker Pezzino rekonstruieren die Massaker in ihrem Buch detailliert. Dessen Übersetzung wurde vom Fritz-Bauer-Institut und der Hessischen Staatskanzlei auf den Weg gebracht. Die Autoren stützen sich auf Justizakten und Zeugenaussagen von Opfern und Tätern. Die Vorbereitungen der Verbrechen, die Befehlsketten und die beteiligten Einheiten werden minutiös dargestellt und belegt. Das mag für Leserinnen und Leser, die mit den Nazi-Verbrechen in Italien nicht so vertraut sind, zunächst etwas mühsam sein. Doch gerade aus der nüchternen Dokumentation der Massaker bezieht das Buch seine Kraft. Die nahezu emotionslose Sprache der Zeugenprotokolle – der Täter wie der Opfer – führt die Ungeheuerlichkeit der Massenmorde besonders eindrücklich vor Augen.
Handgranaten lassen eine Kapelle mit Gefangenen explodieren
Cerpiano etwa: Am 29. September 1944 durchkämmen SS-Männer das Dorf. Sie sperren 47 Frauen und Kinder, einen 74 Jahre alten Bauern und einen gelähmten Mann in eine Kapelle, die den Schutzengeln geweiht war. Antonietta Benni, Lehrerin und einzige erwachsene Überlebende des Massakers, schildert, was dann geschah. Als sie Soldaten mit Handgranaten sah, rief sie, alle sollten beten, denn sie würden jetzt umgebracht. „Ich hatte die Worte kaum zu Ende gesprochen, als sie anfingen, Handgranaten durch Türen und Fenster zu werfen … Die Explosionen, die erlittenen Wunden, die verzweifelten Schreie der Opfer hatten mich bewusstlos gemacht; als ich wieder zu mir kam, wurde mir das Ausmaß der Katastrophe klar.“ Am nächsten Tag kehrten die Deutschen zurück, um die Überlebenden zu töten und auszuplündern. Nur Antonietta Benni und zwei Kinder konnten sich retten.

Den Autoren zufolge bekannte der damalige SS-Unterscharführer Albert Meier im Jahr 2002, an den Tötungen um Marzabotto beteiligt gewesen zu sein. „Wir haben linke Bazillen eliminiert“, habe er gesagt. Insgesamt fiel den Autoren bei ihren Recherchen und Ermittlungen auf, dass kaum einer der Täter Mitleid mit den Opfern oder gar Reue ausdrückte.
Eine Stärke des Buches ist es, dass es auch die Sichtweise, Aussagen und Rechtfertigungsversuche der Täter darstellt. Zudem übt es auch gegenüber den Partisanen Kritik. Als die SS zu ihren Razzien anrückten, seien diese in die Berge geflohen und hätten Frauen, Kinder und Alte in den Höfen zurückgelassen – in dem Glauben, ihnen würden die Deutschen nichts antun. Ein tödlicher Irrtum. Zugleich differenzieren De Paolis und Pezzino bei der Darstellung der SS-Männer. Einige von ihnen hätten sich den Befehlen zu morden verweigert, manchen Dorfbewohnern einen Hinweis gegeben, sich in Sicherheit zu bringen. Etliche deutsche Soldaten hätten sich nicht nur an das Kriegsrecht, sondern auch an die Regeln gehalten, die „in den ungeschriebenen Ethik- und Ehrenkodizes verankert sind“.
Akten zu NS-Verbrechen verschwanden spurlos
Viele andere taten dies nicht. In Deutschland kamen nach 1945 die Ermittlungen wegen der Kriegsverbrechen in Italien nur zögerlich und spät in Gang. Ein einziger Täter wurde rechtskräftig verurteilt, im Jahr 2009. Wegen des Massakers von Marzabotto wurde in der Bundesrepublik niemand verurteilt. In Italien wiederum wurden zunächst nur zwei Deutsche für die Verbrechen am Monte Sole verurteilt. Der eine wurde bereits 1954 begnadigt. Der andere, SS-Sturmbannführer Walter Reder, erhielt 1951 lebenslange Haft und verbüßte sie bis zu seiner Entlassung 1985. Alle anderen Verfahren versandeten 1960, als Hunderte Gerichtsakten über deutsche Kriegsverbrechen von der italienischen Justiz unrechtmäßig beiseitegeschafft wurden. Über die Gründe lässt sich nur spekulieren. Offenbar wollten die italienischen Regierungen den deutschen Nato-Verbündeten nicht mit den alten Fällen belasten. Zudem hatten sie offensichtlich kein Interesse, die Aufmerksamkeit auch auf italienische Kriegsverbrechen, etwa auf dem Balkan, zu lenken.

Erst 1994 wurden die Akten in einem Schrank der Militärgeneralstaatsanwaltschaft im Palazzo Cesi in Rom wieder gefunden. Er ging als „Schrank der Schande“ in die italienische Zeitgeschichte ein. Dennoch geschah erneut wenig. Erst von 2003 an kamen die Dinge voran, als Marco De Paolis, damals Militärstaatsanwalt in La Spezia, zahlreiche Ermittlungsverfahren gegen deutsche Täter einleitete. In seinem Buch schildert er, mit welchen Schwierigkeiten er zu kämpfen hatte, wie die deutsche Justiz nun bei den Ermittlungen effizient kooperierte und 2006 schließlich 20 ehemalige Angehörige der Waffen-SS in La Spezia vor Gericht gestellt wurden. 2008 sprach ein Berufungsgericht in Rom 17 SS-Mitglieder wegen des Massakers von Marzabotto in Abwesenheit schuldig. Die Urteile konnten nie vollstreckt werden. Artikel 16 Absatz 2 Satz 1 des Grundgesetzes bestimmt: „Kein Deutscher darf an das Ausland ausgeliefert werden.“
Verbrechen begehen immer konkrete Menschen
Was haben die späten Bemühungen der italienischen Justiz also gebracht? Die Autoren führen an, was auch für andere Prozesse etwa vor internationalen Kriegsverbrechertribunalen gilt: Sie klären Massenverbrechen auf und beugen so der Geschichtsklitterung vor. Sie bestätigen die Opfer und deren Angehörige in ihrem Leid und geben ihnen womöglich eine gewisse Genugtuung. Und sie bekräftigen und festigen damit bestimmte Rechtsprinzipien. Etwa, dass Verbrechen nicht (allein) von irgendwelchen kollektiven Mächten begangen werden, sondern von konkreten Menschen mit eigener Verantwortung. Hierzu gehören, das stellen De Paolis und Pezzino klar, auch Soldaten im Krieg. Sie müssen sich verbrecherischen Befehlen verweigern. Schließlich erteilen solche Prozesse eine Warnung für die Zukunft. So heißt es im Vorwort zu „Monte Sole – Marzabotto“: „Dieser Ort lehrt uns, was passieren kann, wenn Wut, Nationalismus und Faschismus die menschliche Seele erfassen.“