Jakow Dschugaschwili war einer von mehr als drei Millionen. Drei Millionen Soldaten. So viele Rotarmisten starben bis 1945 in deutscher Gefangenschaft; etwa 5,7 Millionen Sowjetsoldaten hatte die Wehrmacht von 1941 an gefangen genommen. Dschugaschwili, ein Artillerieoffizier, fiel den Deutschen bereits im Juli 1941 in einer Kesselschlacht in die Hände, und als sie herausfanden, dass dieser Artillerist Stalins Sohn war, versuchten sie natürlich Nutzen daraus zu schlagen.
Sie ließen Fotografien mit dem prominenten Gefangenen zwischen deutschen Offizieren aus Flugzeugen über sowjetischem Gebiet abwerfen; später wollten sie ihn gegen den Generalfeldmarschall Paulus austauschen, den Verlierer von Stalingrad. Stalin lehnte ab. Zu Vertrauten sagte er, sein Sohn wäre besser nie geboren worden.
"Nur ein Wunder kann mich jetzt noch retten"
Im Konzentrationslager Sachsenhausen, wo die NS-Machthaber ihn als Geisel hielten, warf sich Dschugaschwili 1943 gegen den elektrisch geladenen Lagerzaun; die Wachen erschossen ihn.
Stalin betrachtete seinen Sohn erst, als er 1945 von dessen selbst gewähltem Ende erfuhr, etwas milder. Wer sich gefangen nehmen ließ und am Leben blieb, war in den Augen des Diktators ein Deserteur, zudem feige und ein Verräter. Dabei war es Stalins verfehltes Vertrauen in Hitler gewesen, das 1941 zum militärischen Desaster beim deutschen Angriff führte.
Gleich bei der Gefangennahme erschossen die Deutschen an die 10 000 Politoffiziere der Roten Armee, die sogenannten Kommissare; so hatte es die NS-Führung angeordnet, und die meisten Befehlshaber machten willig mit. Ermordet wurden auch jüdische Soldaten und, in den ersten Wochen, 100 000 Sowjetsoldaten bei den Märschen in die Lager hinter der Front.
Und zwei Millionen der gefangenen "bolschewistischen Untermenschen" ließen die Deutschen innerhalb von zehn Monaten nach dem Überfall auf die Sowjetunion im Juni 1941 einfach im Freien eingezäunt verhungern. So wie den Soldaten F. Koshedub , der im Oktober 1941 in einem Brief an seine Familie aus Litauen schrieb: "Ich befinde mich unter freiem Himmel in einer Grube oder in einer Höhle. Zu essen bekommen wir pro Tag 200 g Brot, einen halben Liter gekochten Kohl und einen halben Liter Tee mit Minze. Alles ist ungesalzen, damit wir nicht aufquellen. Wir werden mit Stöcken und Stahlruten zur Arbeit getrieben, bekommen aber keine Zusatzkost. Wir haben Millionen Läuse. Ich habe mich zwei Monate nicht rasiert, nicht gewaschen, nicht umgezogen . . . Jeden Tag sterben 200 bis 300 Mann. Retten kann mich nur ein Wunder."
Das Wunder blieb aus, vielmehr gab wenig später, im November 1941, der Generalquartiermeister des Heeres die Weisung aus, dass die Lagerkommandanten nicht arbeitende Kriegsgefangene verhungern lassen sollten. Lebensmittel sollten allein den deutschen Soldaten zur Verfügung stehen.
Und so geschah es, in Hunderten "Russenlagern" nicht nur hinter der Front, sondern überall in Ost- und Mitteleuropa, wohin die sowjetischen Soldaten gebracht wurden. Auch nach Bergen-Belsen, das Konzentrationslager, in dem Anne Frank sowie Zehntausende weitere Menschen aus ganz Europa starben.
Ursprünglich befand sich hier, am Rande eines Truppenübungsplatzes, ein Lager für belgische und französische Kriegsgefangene (welche die Wehrmacht meist mehr oder weniger human behandelte, so wie andere westliche Kriegsgefangene auch). Das Lager wurde 1941 für sowjetische Kriegsgefangene erweitert, zwei andere Lager kamen hinzu. Durch Hunger, Erschöpfung und Epidemien starben allein hier bis Ende März 1942 41 000 sowjetische Soldaten. Erst seit einigen Jahren wird ihr Schicksal im Dokumentationszentrum der Gedenkstätte Bergen-Belsen detailliert gezeigt.
"Wahre Höllenlöcher" seien die Lager für die gefangenen Rotarmisten gewesen, wie der Historiker Christian Hartmann schreibt: "Menschen, die vor Hunger weinten; Menschen, die vom Fleisch ihrer verendeten Kameraden aßen; Menschen, welche die deutschen Wachen baten, sie zu erschießen."
Die deutschen Soldaten, viele ideologisch verblendet, behandelten ihre sowjetischen Gegner oftmals nicht wie Menschen, sondern wie das Ungeziefer, von dem in Goebbels' Propaganda die Rede war. Dabei befanden sich die Gefangenen doch in ihrer Obhut - auch wenn die Sowjetunion die Genfer Kriegsgefangenenkonvention nicht unterzeichnet hatte.
Ein Rotarmist war eben "kein Kamerad", das hatte Hitler selbst noch vor dem Beginn des Feldzuges gegen Russland betont. Der Historiker Christian Streit bezog sich mit dem Titel seiner Dissertation auf diese Worte Hitlers - "Keine Kameraden".
Als das Buch 1978 erschien, wurde zum ersten Mal über die Fachöffentlichkeit hinaus darüber geredet, wie die Wehrmacht mit ihren sowjetischen Gefangenen umgegangen war. Was viele Deutsche zwar gewusst hatten, etwa wenn sie in der Nähe eines "Russenlagers" wohnten, worüber sie aber schuldbewusst schwiegen - das wurde nun, zögerlich noch, in den "Erinnerungsdiskurs" aufgenommen, wie die Historiker es nennen.
"Sehr langsam nur", sagt Peter Jahn, der ehemalige Direktor des Deutsch-Russischen Museums in Berlin-Karlshorst, habe in den späten Siebzigerjahren in der Bundesrepublik eine Entwicklung begonnen, die sowjetischen Gefangenen als Opfer wahrzunehmen, Opfer der Ideologie der Nazis und ihres Vernichtungskrieges gegen die slawische Bevölkerung. Wie auch die "Wehrmachtausstellung" 1995 belegte, waren die Rotarmisten eben nicht nur "normale Kriegsgefangene", die nicht überlebt hatten, weil Krieg eben Krieg sei, wie es lakonisch oft hieß.