Zweiter Weltkrieg 1945:Die Brücke von Frankfurt

Klaus Schindel war neun Jahre alt, als der Krieg zu Ende ging. Sein Vater war Beamter bei der Gauleitung in Wiesbaden und nun auf der Flucht - hatte sich einem Befehl widersetzt.

Protokoll: Oliver Das Gupta

"Die ersten Amerikaner sah ich an einem sonnigen Frühlingstag Anfang April 1945. Ich war vor einigen Wochen gerade neun Jahre alt geworden.

Für uns Lausbuben war der Einmarsch der Alliierten eine aufregende Sache. Wir waren neugierig auf die fremden Truppen, bei denen es sogar "Neger" geben sollte.

Wochen zuvor hatte unsere Lehrerin - inzwischen hatten wir schon lange keinen ordentlichen Unterricht mehr - von den Amerikanern gesprochen, in deren Reihen auch Indianer und Schwarze kämpfen sollten.

Zwei Tage vor dem Einmarsch der Amerikaner waren die deutschen Truppen durch unser Dorf Rimbach in Oberhessen gekommen. Was waren das für armselige Gestalten!

Unsere Idole damals waren alles Offiziere der Wehrmacht wie Galland, Rudel oder Rommel. Wenn ihr Name fiel, hatten wir Heldenbilder vor uns, Männer in prächtigen Uniformen, das Ritterkreuz um den Hals.

Der Bürgermeister rief zum Widerstand auf

Aber diese deutschen Soldaten in den letzten Kriegstagen lagen müde und schlapp auf den Lastwagen, ihre Uniformen waren dreckig, Knöpfe fehlten an den Mänteln und alle trugen Mützen statt der Stahlhelme. Einige von ihnen fragten uns sogar nach Brot oder Kartoffeln.

Nachdem die deutschen Truppen durchgezogen waren, wurden die Bewohner des Dorfes unruhig. Es konnte ja zu Kampfhandlungen kommen, und das sollte unter allen Umständen verhindert werden. Der Bürgermeister soll noch kurz vor dem Durchzug der Wehrmacht die Dorfbewohner zum Widerstand aufgerufen haben.

Jetzt fuhr er mit dem Fahrrad an den westlichen Ortsausgang und ging in die Häuser. Ich vermute, er hat mit den Bewohnern abgesprochen, dass sie Betttücher aus den Fenstern hängten zum Zeichen der Aufgabe.

Wir Kinder waren eigentlich nicht ängstlich, wir schafften es irgendwie, die Bedrohung der immer näher rückenden Front zu ertragen.

Einige Wochen zuvor, damals wohnten wir noch im Odenwald in Bad König, hatten wir ununterbrochen das dumpfe Grollen der Geschütze gehört, fast jeden Tag überflogen uns die feindlichen Bomberverbände - wir spielten unbeeinträchtigt weiter.

Jetzt befanden wir uns in Oberhessen und vernahmen keine Kriegsgeräusche mehr. Alles wartete gespannt auf die US-Truppen. Unsere Eltern beobachteten mit alten Operngläsern den Horizont im Westen, wir Kinder mussten uns abmelden, wenn wir zum Latrinenhäuschen auf der anderen Straßenseite gehen wollten.

Gerade als ich auf die Toilette gegangen war, riefen meine Eltern durch das Fenster: "Sie kommen, komm schnell herein!". Erschrocken lief ich zurück ins Haus.

Und dann rollten sie dröhnend durch unser Dorf. Erst ein Panzer, dann unzählige Lastwagen, dazwischen die berühmten Jeeps. Ein Offizier stand im Fahrerhaus eines LKWs und rief immer wieder: "Deutsche Bevölkerung gehn in Haus!".

"Die GIs liefen leise und irgendwie geschmeidig"

Wir trauten uns dann doch auf die Straße und sahen uns den "Feind" näher an: Die GIs steckten in blitzblanken Uniformen und trugen Stahlhelme, Maschinengewehre waren auf die Fahrzeuge montiert, große Artilleriegeschütze hatten sie auch dabei.

Was für ein Kontrast zu dem Bild, welches die deutschen Landser zuvor abgegeben hatten. Die Amerikaner bettelten auch nicht nach Essbarem, im Gegenteil, manchmal warfen sie uns Kindern Schokolade zu.

Und wir sahen auch Schwarze, wie sie auf den Lastwagen saßen, alle in den hellbraunen Uniformen und glänzenden Stiefeln. Gerade dieses Schuhwerk hatte es mir angetan: Die GIs hingegen trugen braune Schnürstiefel mit dicken Gummisohlen ganz ohne Nägel.

Ich kannte die deutschen "Knobelbecher" mit vielen Nägeln in der Sohle, so dass jeder Vorbeimarsch nicht nur zu sehen, sondern auch zu hören war. Aber diese Soldaten aus Amerika liefen leise und irgendwie geschmeidig.

Als der Durchmarsch fast zu Ende war, besetzten die Amerikaner unser Haus, wir mussten auf der Stelle gehen. Hastig packten meine Eltern Kleidung und Betttücher zusammen, und dann eilten sie mit vier Kindern und zwei anderen Frauen in das Nachbardorf Queck.

Unterwegs sah ich zum ersten Mal einen toten Menschen, er lag mit dem Gesicht im Straßengraben. Es war kein Soldat, sondern der Kleidung nach ein Bauer. Um seine Unterschenkel hatte er Gamaschen gewickelt. In Queck angekommen, wurde uns ein Haus zugewiesen. Meine Eltern brachten uns eilig in den ersten Stock - im Souterrain lag ein Mann, der sich offenbar selbst getötet hatte, das sollten wir Kinder nicht sehen.

Drei Tage später kehrten wir wieder in unsere alte Wohnung zurück. Das Leben war nun bedeutend ruhiger: Vater musste nämlich keine Angst mehr vor dem SD (Sicherheitsdienst) haben.

Mitten im Januar 1945 hatte uns der Vater aus unserer Wohnung in Bad König geholt und dann mit seinem grünen BMW nach Oberhessen gebracht. Das war alles ganz schnell vor sich gegangen, es glich einer Flucht. Nur vor welcher Gefahr flohen wir damals?

Erst viele Jahre später erzählte uns die Mutter den Grund für diese Fluchtfahrt. Vater war Beamter bei der Gauleitung in Wiesbaden, er war, wie fast alle Beamten, seit 1937 NSDAP-Mitglied.

Gauleiter Sprenger soll ihm befohlen haben, die Mainbrücke in Frankfurt zu sprengen. Diese Anordnung führte er aber laut meiner Mutter nicht aus, sondern floh stattdessen aus Amt und Dienstbereich.

Tischtennis mit dem Mann vom SD

Er selbst erzählte uns später immer von seiner Zeit als Beamter, wohl um uns zu erklären, dass er keine Verbrechen begangen hatte. Über die Flucht und deren Gründe hat er jedoch nie gesprochen.

Nach dem nächtlichen Umzug ins oberhessische Rimbach verließ Vater tagsüber die Wohnung und versteckte sich im nahe gelegenen Wäldchen. Unsere Mutter ermahnte uns, seinen Aufenthalt nicht zu verraten: "Wenn der Onkel Pullmann kommt und nach Papa fragt, dann sagt ihr: `Der Papa ist in Wiesbaden auf dem Amt`".

Der Onkel Pullmann war ein Beamter des SD (Sicherheitsdienstes) und war uns Kindern wohl bekannt. Früher war er an Wochenenden oft bei uns und spielte Tischtennis mit den Eltern.

Eines Tages erschien er tatsächlich vor unserem Haus, er trug den bekannten Ledermantel, den alle SD-Beamte damals anhatten. Was er dann mit Mutter besprochen hat, weiß ich nicht.

Nach dem Durchzug der Amerikaner war die Bedrohung für meinen Vater vorbei, er verbrachte jetzt den ganzen Tag bei uns zu Hause.

Uns Kindern war das gar nicht so angenehm, denn ohne die väterliche Aufsicht waren wir in diesen Tagen ganz gerne, unser Zeitvertreib war nicht ganz einwandfrei.

Da gab es nämlich hinter dem Haus eine Bahnlinie, auf der ein Güterzug stehen geblieben war. Wir Lausbuben waren natürlich neugierig auf das, was die Waggons geladen hatten. Zunächst fanden wir Werkzeuge wie Hammer, Sägen und Zangen, später entdeckten wir Zigaretten - einen ganzen Waggon voll.

"Wir rauchten hastig und ohne Unterbrechung"

Und so versah ich mich mit meinen Geschwistern und Spielkameraden täglich mit einem gehörigen Vorrat an Zigaretten, dann versteckten wir uns im Wald. Wir rauchten hastig und ohne Unterbrechung, entzündeten ständig neue Zigaretten an den noch glimmenden, denn wir hatten nicht genügend Streichhölzer.

Die Sache endete schlagartig, als die russischen Kriegsgefangenen, die damals auf den Bauernhöfen arbeiteten, den Waggon ebenfalls entdeckten und uns Kinder nicht mehr heran ließen.

Mit den Kriegsgefangenen hatten wir bis dahin gute Kameradschaft gehalten. Die Männer waren freundlich zu uns, sie arbeiteten ohne jede Aufsicht auf den Feldern und im Stall und waren am Esstisch der Familie mit dabei.

Wir Kinder gingen oft mit ihnen aufs Feld und halfen bei der Arbeit. Wir nannten alle Russen "Iwan", weil sie sich selbst so bezeichnet hatten. Deutsch sprachen sie nicht oder nur sehr schlecht, trotzdem hat man sich verständigt.

Das recht gute Verhältnis änderte sich nach dem Durchzug der Amerikaner. Die Russen gingen nicht mehr pünktlich zur Arbeit, sie kamen auf dem Platz vor der Kirche zusammen. Vielleicht beratschlagten sie, was zu tun sei, um wieder nach Hause zu kommen.

Und eines Tages marschierten sie geschlossen von Haus zu Haus, ließen sich Eier und Brot geben und verließen dann in loser Marschordnung das Dorf in Richtung Osten."

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