Kriegsende 1945:Das letzte Gefecht

Lieselotte Bach Zweiter Weltkrieg Zeitzeugin

Zeitzeugin Lieselotte Bach

(Foto: Oliver Das Gupta)

Für Lieselotte Bach aus dem Dorf Wangen bei Starnberg endet der Krieg am 30. April 1945: Morgens machen sich SS-Männer in ihrem Haus breit. Dann klopft ein US-Soldat an der Tür.

Oliver Das Gupta

Zeiteugin Lieselotte Bach erinnert sich für die SZ an die Geschehnisse im Frühjahr 1945. Bach, Jahrgang 1920, hat im Zweiten Weltkrieg zwei innig geliebte Menschen verloren. Ihr Bruder fiel 1942 beim Vormarsch auf Stalingrad, ihr Ehemann wird im Herbst 1944 auf dem Balkan als vermisst gemeldet. Wenige Wochen zuvor hatten er und die Studentin Lieselotte Venator geheiratet.

Die Wochen vor dem Kriegsende 1945 erlebt Bach im Haus ihrer Eltern in Wangen, einem Dorf, das zwischen München und Starnberg liegt. Das Anwesen der Familie Venator/Bach heißt Jägerhof.

Im Februar 1945 tauchen zwei Adelige auf: Baron Heintze und Herr von Mutius gehören zum Auswärtigen Amt und wollen hier Quartier machen: Für das Kolonialpolitische Amt, dem Steckenpferd von Franz Ritter von Epp (1868 - 1946). Hitlers Reichsstatthalter in Bayern träumt von einem Wiedererstehen der deutscher Kolonien. Diktator Adolf Hitler hingegen hat für seinen germanischen Rassenwahn "Lebensraum im Osten" im Sinn, aber keine Ländereien in Übersee.

Während des Krieges wird das Kolonialpolitische Amt offiziell aufgelöst; tatsächlich beschäftigt Epp weiterhin einen Ministerialdirektor und zwei Sekretärinnen. Sie ziehen im März in den Jägerhof ein, während der Reichsstatthalter in einem nahen Gutshof unterkommt.

Baron Heintze versucht Epp zu überreden, Bayern den vorrückenden amerikanischen Truppen kampflos zu übergeben - vergeblich. Der Reichsstatthalter, ein früher Nazi, lehnt mit dem Argument ab, er habe einen Eid auf Adolf Hitler geschworen.

Die letzte Phase des Krieges beginnt in Wangen Ende April. So erinnert sich Lieselotte Bach:

"Am 28. April wird in München geputscht. Hauptmann Rupprecht Gerngross besetzt mit seiner Dolmetscher-Kompanie den Rundfunk. Um 6 Uhr ruft er zur kampflosen Übergabe Bayerns an die Amerikaner auf. Bis Mittag hören wir immer wieder die 'Freiheitsaktion Bayern' im Radio. Dann hat der Gauleiter mit der SS den Putsch niedergeschlagen.

Heintze und Mutius fahren am Folgetag den Amerikanern in einem Auto entgegen, die Leute vom Kolonialpolitischen Amt verlassen den Jägerhof. Aus Richtung München hören wir Artillerie schießen.

Am nächsten Tag fährt ein Lastwagen vor. Es handelt sich um eine Panzeraufklärungsabteilung der Waffen-SS, auch einige Flakmädels sind dabei. Sie kommen aus dem Badischen. Die SS-Männer schleppen Maschinengewehre und Munition in die oberen Etagen. Vom Laster bringen sie auch Kisten voller Leberwursttuben, Eier und Fett in unsere Küche und beginnen auf dem Herd zu brutzeln. Als meine Mutter die SS mit Blick auf die Waffen fragt, ob das denn noch sein müsste, sagt man ihr scharf: "Seien Sie bloß still, sonst ..."

Am Nachmittag um halb vier klopft es an der Haustüre. Mein Vater geht gerade vorbei und öffnet. Es ist ein amerikanischer Soldat mit Gewehr. Er stürmt ins Haus und durchsucht alle Zimmer. Die SS-Leute türmen. Sie springen durchs Küchenfenster und rennen durch den Obstgarten den Eichenhang hinunter. Es fallen Schüsse. Drei der SS-Männer werden getötet.

Die Amerikaner hatten das Haus umstellt. Sie wussten, wer sich darin befand: Der Laster der SS stand ja davor.

Die Amerikaner bringen vier deutsche Verwundete ins Haus. Wir wollen sie in die Betten legen, aber das verweigern die US-Soldaten. So könnten sie die SS-Männer nur schwer bewachen. Wir müssen die Verwundeten in der Diele auf Matratzen legen. Wir versorgen sie mit Tee, Brot, Butter und Wurst von dem Lkw. Die Wunden waren schon von den Amerikanern verbunden. Einer der SS-Männer ist sehr stark verwundet.

Abends holt ein Sanka die Soldaten ab, sie kommen in Gefangenschaft. Zu unserer Bewachung bleiben zwei amerikanische Soldaten zurück, es handelt sich um Studenten. Sie schlafen in einem unserer Zimmer.

Am Morgen des 1. Mai werden unsere Bewacher von 20 Mann abgelöst, die sich in den oberen Stockwerken verteilen, auch die Küche wird besetzt. Draußen schneit es, es ist sehr kalt. Der Laster der SS wird abgeholt.

Unsere Hausangestellte schleppt Kohlen heran, damit die Amerikaner nicht etwa Möbel verbrennen. Mit ihr und einer Wuppertalerin, die mit ihren beiden kleinen Kindern vom Nachbarn herüberkommt, werden wir dann in unser Wohnzimmer eingeschlossen.

Begegnung mit KZ-Überlebenden

Am Schreibtisch meiner Mutter im Salon lässt sich ein kanadischer Offizier nieder. Er sagt, er wolle den schönen Raum von seinen Soldaten freihalten.

Dann verhört er meine Mutter. Die Amerikaner hatten das Haus durchsucht und waren fündig geworden: Die Leute des Kolonialpolitischen Amtes hatten Briefpapier zurückgelassen, auf den Bögen prangte das Hakenkreuz. Auch einen unbrauchbaren Trommel-Revolvers meines Bruders hatten die Soldaten im Keller gefunden.

Nun will der Offizier ein Geständnis: Er setzt meiner Mutter seine Pistole auf die Stirn und nennt sie Nazi woman . Meine Mutter beteuert ihre Unschuld. Der Offizier gibt sich schließlich mit ihren Erklärungen zufrieden.

Lieselotte Bach Zweiter Weltkrieg Zeitzeugin Schreibtisch

Fotos von den Eltern, dem gefallenen Bruder und dem vermissten Ehemann auf dem Schreibtisch von Lieselotte Bach

(Foto: Oliver Das Gupta)

Zum Schlafen legen sich mein Vater und ich unter seinen Schreibtisch. Um Mitternacht gratuliert er mir zum Geburtstag: Ich werde 25. Meine Mutter will mich in diesen Tagen immer verstecken, sie hat Angst, dass ich vergewaltigt werde.

Am nächsten Tag wird der Wangener Bürgermeister geholt. Er erhält in deutscher Sprache verfasste Anweisungen der Militärverwaltung zum Beispiel über die Lebensmittelversorgung. Teile der 80 Zentner Gerstenmehl, die mit den Leuten vom Kolonialpolitischen Amt hergebracht worden waren, werden an die Bevölkerung verteilt. Wir werden noch im Sommer davon Brot backen.

Alle bei den Wangenern vorhandenen Schusswaffen müssen abgeliefert werden. Wichtig ist auch die Ausgangssperre: Wer nachts auf der Straße angetroffen wird, muss mit dem Tode rechnen. Alle Wangener Männer müssen sich an diesem Morgen mit Wehrpass oder Entlassungsschein vor unserem Haus beim Kommandanten melden.

Da der Entlassungsschein meines Vaters vom 26. April stammt, der Stichtag aber der 12. April ist, wird mein Vater festgenommen. Es heißt, er müsse zur höheren Dienststelle nach Gauting. Wir warten, aber er kommt nicht wieder.

Mittags verlassen uns die Amerikaner unter Mitnahme unserer Winterhandschuhe, weil es sehr kalt ist und Schnee liegt.

Vor der Tür stehen plötzlich befreite Häftlinge aus einem Konzentrationslager, sie kommen aus Osteuropa. Sie tragen noch ihre gestreifte KZ-Kleidung. Einer fuchtelt mit einem großen Messer herum, sie fordern Kleidung, die wir ihnen nach Möglichkeit geben. Sie verstauen die erhaltene Kleidung in einem Handwagen und ziehen weiter.

Es kommen immer wieder freigelassene KZ-Häftlinge und russische Zwangsarbeiter vorbei. Von nun an verhandelt meine Mutter nur noch durch das Dielenfenster mit solchen Trupps und droht ihnen mit einem Beil.

Am Abend des 4. Mai taucht Baron Heintze auf. Wir bekommen vom Wangener Bürgermeister einen 20-jährigen Letten geschickt, der uns beschützen soll. Er ist mit der Wehrmacht mitgezogen und nun heimatlos. Er kann russisch mit den freigelassenen Häftlingen sprechen und hilft in der Landwirtschaft.

Tags darauf fährt Baron Heintze per Rad nach München zur amerikanischen Militärregierung und besorgt uns ein "Off-limits"-Schild für die Haustüre. So haben wir Ruhe vor den russischen Trupps. Der Baron hat sich mit den Amerikanern arrangiert, er steht unter Hausarrest und bleibt zunächst bei uns.

Fräulein Doktor Haussmann, die der Baron vom Auswärtigen Amt mitgebracht hatte, zieht für fast ein ganzes Jahr zu uns. Auch sie hilft nach Kräften mit in Haus und Hof. In Wangen heißt sie nur "das Flakmädel vom Epp".

Mein Vater kehrt erst im September wieder zurück - um 25 Kilogramm leichter."

Hauptmann Gerngross, der mit seiner 'Freiheitsaktion Bayern' den Krieg in Bayern beenden wollte, kann sich auf einer Berghütte verstecken. Mehr als 40 andere Aufständische werden durch die SS und andere Nazi-Schergen ermordet., kurz bevor die Amerikaner München erreichen. Die 'Freiheitsaktion' rettet dennoch Leben: Die SS-Bewacher der KZ-Todesmärsche glauben, der Krieg sei vorbei und lassen ihre Opfer frei.

Reichsstatthalter von Epp wird, obwohl er sich dem Putsch verweigerte, von der SS verhaftet, nach der Kapitulation kommt er in US-Haft. 1946 stirbt Epp während seiner Internierung.

Lieselotte Bachs Ehemann bleibt verschollen, sie heiratet nie wieder. Nach dem Krieg engagiert sie sich in der evangelischen Kirche und in der Kommunalpolitik. Als Vertreterin einer Wählergemeinschaft vertritt sie die Interessen ihres Dorfes viele Jahre im Starnberger Stadtrat.

Im Eichengrund, dort wo die SS-Männer starben, wachsen Pflaumen- und Apfelbäume, dahinter führt eine Autobahntrasse entlang.

Zwei der Toten wurden von ihren Angehörigen überführt. Der dritte SS-Mann liegt nach wie vor auf dem Wangener Ortsfriedhof. Niemand weiß, wer er war.

Nachtrag: Lieselotte Bach ist am 11. April 2020 verstorben. Am 2. Mai wäre sie 100 Jahre alt geworden.

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