Krieg in der Ukraine:Wunschdenken in Kiew

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Die ukrainische Armee greift im Süden die russischen Truppen an, etwa im Ort Nowa Kachowka. Sie wird aber bislang meistens gestoppt. (Foto: Sergei Bobylev/Imago)

Eine Großoffensive im Süden gegen die russischen Truppen ist ebenso unwahrscheinlich wie die Rekrutierung von Zehntausenden neuen Soldaten. Waffen aus dem Westen verhelfen der Ukraine aber zu Erfolgen.

Von Florian Hassel, Belgrad

Die 106. Luftlandedivision aus Tula südlich von Moskau ist eine der Elite-Einheiten der russischen Armee - und spielt im Krieg gegen die Ukraine eine große Rolle. Doch seine Kommandeure leben gefährlich: Seit die ukrainische Armee im Juni die ersten mobilen M142- Himars-Raketensysteme aus US-Produktion und von den Briten gelieferte M270-Raketenwerfer bekam, zerstört sie zunehmend erfolgreich Dutzende russische Munitionsdepots, Kommandostellungen und Sammelplätze.

So soll etwa die 106. Luftlandedivision bei ukrainischen Treffern am 20. Juni und 8. Juli alle stellvertretenden Kommandeure verloren haben. Allein in der vergangenen Woche hätten die Ukrainer "mehr als zehn große Munitionslager, mehrere Öldepots, rund zehn Kommandozentren und die gleiche Zahl von Truppensammelplätzen getroffen", schimpfte der 2014 vom Kreml in der Ostukraine eingesetzte ehemalige russische Geheimdienstoffizier Igor Girkin (Pseudonym: Strelkow) auf seinem Telegram-Kanal am 10. Juli. Russland habe "große Verluste an Männern und Ausrüstung" erlitten, die russische Flugabwehr sei "ineffektiv gegenüber massiven Angriffen mit Himars-Raketen".

Zweifellos wirken sich die westlichen Raketenwerfer im Krieg positiv für die Ukrainer aus. Doch auch Russland verstärkte in den vergangenen Tagen seine Angriffe mit Granaten, Raketen und Marschflugkörpern: nicht nur auf Dutzende Dörfer und Städte in der Region Donezk, die Moskau ganz erobern will, sondern auch in der Region Charkiw, in Mykolajiw oder der Region Odessa. Allein Mykolajiw im Süden der Ukraine wurde am Dienstagmorgen von mindestens 19 russischen Raketen getroffen, so Militärgouverneur Witalij Kim. Es gebe viele Zerstörungen und "viele Leidtragende". In der Stadt Tschassiw Jar in der Region Donezk, wo ein fünfstöckiges Wohnhaus am Samstag getroffen wurde, haben die Bergungsmannschaften mittlerweile 35 tote Zivilisten geborgen.

Der Krieg ist von seinem Ende Monate, womöglich Jahre entfernt. In der Region Donezk schießen die Russen die zur Eroberung vorgesehenen Dörfer und Städte wie Bachmut und Druschkiwka, Kramatorsk und Slowjansk langsam, aber sicher sturmreif. Die Ukrainer ihrerseits wollen die Region Cherson zurückerobern. Die westlich von der Halbinsel Krim gelegene Region am Schwarzen Meer ist seit Beginn des Krieges überwiegend von den Russen besetzt - und strategisch entscheidend, um gegebenenfalls Odessa anzugreifen und die Blockade der Häfen aufrechtzuerhalten, womit Moskau den Ukrainern wirtschaftlich die Luft abschnürt.

Präsident Selenskij habe die Rückeroberung der Schwarzmeerküste bis Mariupol befohlen

Am Wochenende kündigten die Ukrainer eine Großoffensive zur Befreiung Chersons an, Vize-Ministerpräsidentin Iryna Wereschtschuk forderte in der Region verbliebene Ukrainer auf zu fliehen. Die Überzeugungskraft der Vize-Ministerpräsidentin litt freilich darunter, dass sowohl der ukrainische Generalstab wie Wereschtschuk selbst schon wiederholt derlei Ankündigungen machten.

"Cherson, halt aus - wir kommen!", kündigte etwa der Generalstab am 29. Mai an. "Bitte geht", forderte Wereschtschuk dann am 20. Juni, "denn unsere Armee wird diese Gebiete definitiv deokkupieren ... Die Deokkupierung wird sehr schnell sein. Es wird definitiv eine Gegenoffensive geben." Tatsächlich aber kommen die Ukrainer militärisch nur im Schneckentempo voran und haben in den vergangenen Wochen zwar einige Dörfer eingenommen, sind aber von der Rückeroberung der Stadt Cherson und der dahinterliegenden Gebiete in Richtung Krim weit entfernt. Am Dienstag führte der ukrainische Generalstab gleich 17 Ortschaften auf, bei denen die russische Artillerie einen weiteren Vormarsch der Ukrainer verhindere.

Verteidigungsminister Oleksij Resnikow sagte der britischen Sunday Times am Wochenende, Präsident Wolodimir Selenskij habe die militärische Rückeroberung nicht nur der Region Chersons, sondern des - bis nach Mariupol führenden - Küstenstreifens generell befohlen. Der Ukraine stehe dafür eine Streitmacht von 700 000 Soldaten und noch einmal 300 000 Nationalgardisten, Grenztruppen und Polizisten zur Verfügung.

Doch diese Zahlen sind auf absehbare Zeit ebenso reines Wunschdenken wie die große Offensive zur Rückeroberung der ukrainischen Küstengebiete. Dem Londoner Institut für strategische Studien (IISS) zufolge, Herausgeber des Referenzwerkes "Military Balance" über die Armeen dieser Welt, gingen die Ukrainer anfangs mit gut 125 000 einsatzbereiten Soldaten und noch einmal 100 000 paramilitärischen Nationalgardisten und Grenztruppen in den Krieg gegen Russland.

Seitdem haben die Ukrainer Zehntausende Soldaten durch Tod oder Verwundung verloren, mehr als 7000 sind in russischer Gefangenschaft. Großbritanniens Verteidigungsminister Ben Wallace bekräftigte nach der Rücktrittsankündigung von Premier Boris Johnson, das Vereinigte Königreich werde 10 000 ukrainische Soldaten ausbilden. Das aber dauert fast vier Monate; gegenwärtig würden erst die ersten 600 Ukrainer in Großbritannien ausgebildet, berichtete der britische Guardian.

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