Russlands Angriff auf die Ukraine:"Sanktionen werden den Angreifer nicht aufhalten"

Russlands Angriff auf die Ukraine: In der litauischen Hauptstadt Vilnius protestieren Demonstranten vor der russischen Botschaft gegen den Angriff Russlands auf die Ukraine.

In der litauischen Hauptstadt Vilnius protestieren Demonstranten vor der russischen Botschaft gegen den Angriff Russlands auf die Ukraine.

(Foto: Mindaugas Kulbis/dpa)

In den baltischen Staaten wird die politische Isolierung Russlands und die Versorgung des ukrainischen Volkes mit Waffen und Munition gefordert. Litauen ruft den Ausnahmezustand aus.

Von Matthias Kolb und Kai Strittmatter

Sie war als Zeichen der Solidarität gedacht, die Reise, die die Außenminister aus Estland, Litauen und Lettland am Mittwoch in die ukrainische Hauptstadt antraten. Noch kurz vor Mitternacht stellte die Estin Eva-Maria Liimets ein idyllisches Selfie vom Nachtspaziergang durch "das wunderschöne #Kiew" auf Twitter, das sie vor der Sophienkathedrale zeigte. Wenige Stunden später wachten die drei Minister im Krieg auf: Die russische Invasion hatte begonnen.

Die Reaktion der drei baltischen Minister war denn auch prompt und scharf. Noch am frühen Morgen forderten sie in einer Erklärung den sofortigen Ausschluss Russlands aus dem internationalen Zahlungssystem Swift und die politische Isolierung des Landes. Außerdem verlangten sie nicht nur humanitäre und politische Unterstützung für die angegriffene Ukraine, sondern "die dringende Versorgung des ukrainischen Volkes mit Waffen und Munition". Dass die drei Länder Panzerabwehrwaffen vom Typ Javelin und schultergestützte Stinger-Luftabwehrraketen an Kiew geliefert haben, findet in der Bevölkerung breiten Rückhalt.

In Vilnius erklärte Litauens Präsident Gitanas Nausėda den Ausnahmezustand für sein Land, der vorerst bis zum 10. März gelten soll. Wenige Nationen warnen seit Jahren so eindringlich vor der Bedrohung durch Wladimir Putin wie die baltischen Staaten, die wie die Ukraine direkte Nachbarn Russlands sind und ihre Unabhängigkeit erst nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion zurückerlangten. Alle drei ließ Diktator Stalin 1940 besetzen, und aus allen Ländern wurden anschließend Zehntausende Männer, Frauen und Kinder in die Verbannung geschickt. Auch die Benutzung der Landessprachen wurde nach dem Krieg unter Stalin jahrelang unterdrückt und eine Russifizierung betrieben.

Russlands militärische Übermacht wächst

Seit 2004 gehören Estland, Lettland und Litauen sowohl der EU als auch der Nato an - und sie zählen zu jenen Mitgliedern der Allianz, die am Donnerstag Konsultationen gemäß Artikel 4 des Nordatlantikvertrages verlangten. Der Grund: Sie sehen die Unversehrtheit des eigenen Territoriums oder die eigene Sicherheit als bedroht an. Dass Russland militärisch übermächtig ist, wissen alle in der Region. So sind in der russischen Exklave Kaliningrad, die an Litauen und Polen grenzt und nur 500 Kilometer von Berlin entfernt ist, Iskander-Raketen stationiert, die auch mit Atomsprengköpfen bestückt werden können.

Nun scheint der belarussische Autokrat Alexander Lukaschenko bereit zu sein, Zehntausende russische Soldaten auf seinem Staatsgebiet zu stationieren. Dadurch würde Russlands militärische Übermacht noch größer, und Moskau könnte die für die Nato-Partner ohnehin schon schwierige Versorgung des Baltikums durch den schmalen "Suwałki-Korridor" fast unmöglich machen. Kusti Salm, der höchste Beamte im estnischen Verteidigungsministerium, warnte schon vor Wochen "vor dieser dramatischen Veränderung", die es so in den vergangenen Jahrzehnten nicht gegeben habe.

Zugleich bemühen sich Regierungsmitglieder und Politiker in allen drei Staaten, ihre Bürger zu beruhigen. Der lettische Verteidigungsminister Artis Pabriks erklärte etwa, es gebe zurzeit "keine unmittelbare militärische Bedrohung" für ihre Länder. Trotzdem sollen alle drei ihre Verteidigungshaushalte aufstocken. Lettlands Verteidigungsminister forderte am Donnerstag eine Erhöhung auf 2,5 Prozent des Bruttoinlandsproduktes, Estland hatte schon vor einigen Wochen bekannt gegeben, der Armee in den nächsten vier Jahren 380 Millionen Euro zusätzlich zur Verfügung zu stellen. Das Verteidigungsbudget Estlands für 2022 beträgt 748 Millionen Euro, das sind 2,31 Prozent der Wirtschaftsleistung.

Sorge vor hybriden Angriffen aus Russland

Zudem stellt man sich im Baltikum auf hybride Bedrohungsszenarien ein. Estland war 2007 das Opfer des ersten, weltweit beachteten Cyberangriffs - russische Hacker legten damals Banken, Regierungsserver und die Websites zahlreicher Medien lahm, nachdem das Denkmal eines Sowjetsoldaten, das viele Esten an die Okkupation erinnerte, in der Hauptstadt Tallinn versetzt worden war. Russische Desinformation ist ein weiteres großes Thema, vor allem für Estland und Lettland. Dort gibt es eine große russischsprachige Minderheit unter ihren Staatsbürgern. Die lettische Rundfunkaufsichtsbehörde NEPLP teilte am Donnerstag mit, sie habe mit sofortiger Wirkung mehreren russischen TV-Sendern die Ausstrahlung für die nächsten Jahre verboten, weil diese nur mehr Werkzeuge für Kremlpropaganda gewesen seien. NEPLP-Chef Ivars Āboliņš rief andere EU-Mitgliedsstaaten dazu auf, ebenfalls Sender wie Rossija RTR, Rossija 24 oder TV Center International zu verbieten.

Aus vielen Kommentaren ist Frust herauszulesen über das, was in den baltischen Ländern seit vielen Jahren schon als fahrlässige Naivität und allzu große Kompromissbereitschaft anderer europäischer Regierungen gegenüber Russlands Präsident Putin wahrgenommen wird. Die litauische Parlamentspräsidentin Viktorija Čmilytė-Nielsen sagte, sie schäme sich für den Teil des Westens, "der sich schon seit Jahren weigert, Putins imperiale Ambitionen wahrzunehmen". Umso wichtiger sei nun, "dass die Sanktionen des Westens so hart wie möglich und die Reaktion so einig wie möglich" seien.

Sehr skeptisch über die Wirkung der geplanten Strafmaßnahmen äußert sich die wohl bekannteste Politikerin des Baltikums, Dalia Grybauskaitė. Die frühere EU-Kommissarin und litauische Staatspräsidentin twitterte: "Sanktionen werden den Angreifer nicht aufhalten, sondern nur bestrafen. Kriegsverbrecher können nur auf dem Schlachtfeld gestoppt werden."

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