Es ist der sechste Tag der türkischen Militäroperation in Nordsyrien, und das türkische Frühstücksfernsehen serviert Siegesmeldungen. So als sei über Nacht nicht ein neuer Feind an den Grenzen der Türkei aufgetaucht: die syrische Armee. Die steht am Montagmorgen schon in Tel Tamer, nur 30 Kilometer von der türkischen Grenze entfernt. Die Bewohner des Ortes hätten die syrischen Soldaten freundlich begrüßt, schreibt die staatliche syrische Nachrichtenagentur Sana und fügt hinzu: Die syrische Armee werde "der türkischen Aggression entgegentreten".
Kein Wort davon in den regierungsnahen türkischen TV-Kanälen. Es wirkt, als wüssten die Sender erst einmal nicht, wie sie mit der neuen Lage umgehen sollen. So zeigen sie wieder Bilder vom Vortag, von einem Auftritt Recep Tayyip Erdoğans in Istanbul. Der Präsident versicherte da, "wir werden nicht stoppen".
Erst gegen Mittag wird bekannt, dass von Sonntagabend bis Montagmorgen ein Krisenstab tagte, der türkische Verteidigungsminister Hulusi Akar hatte die wichtigsten Generäle zusammengerufen, auch Geheimdienstchef Hakan Fidan war anwesend. Es habe während der Nachtsitzung auch telefonische Abstimmungen mit den USA und mit Russland gegeben, berichtet das regierungsnahe Blatt Habertürk. Details gibt es nicht. Dass die syrisch-kurdischen Kämpfer der YPG-Miliz sich nur einige Stunden davor in eine Allianz mit der Regierung von Präsident Baschar al-Assad geflüchtet hatten, wird in den Laufbändern der türkischen TV-Sender da immer noch in Anführungszeichen geschrieben, als "Behauptung" bezeichnet.
Nordsyrien:Kurden rufen Assads Truppen zur Hilfe
Die Kurden hatten während des Bürgerkriegs weitgehend die Kontrolle in Nordsyrien übernommen. Dass sie nun Syriens Präsident um Hilfe im Kampf gegen die Türkei bitten, zeigt ihre verzweifelte Lage nach dem Rückzug der USA.
Trumps Twitter-Tirade
Bevor sich die Kurden mit Assad verständigten, hatte US-Präsident Donald Trump noch den vollständigen Abzug der etwa 1000 US-Soldaten aus Nordsyrien verkündet. Von den US-Beobachtungsposten entlang der Grenze hatten sich die US-Truppen auf Anweisung Trumps schon vor der türkischen Offensive zurückgezogen. Das verstand Ankara als Signal zum Angriff.
Am Sonntagabend twittert Trump dann: "Sehr klug, sich zur Abwechslung nicht in die intensiven Kämpfe entlang der türkischen Grenze einzumischen. Jene, die uns irrtümlich in die Kriege im Nahen Osten hineingezogen haben, dringen noch immer darauf, zu kämpfen. Sie haben keine Ahnung, was für eine schlechte Entscheidung sie getroffen haben." Es ist nicht ganz klar, wem diese neue Tirade gelten soll. Den Kurden? Der Türkei?
Ankara wohl nicht. Denn US-Verteidigungsminister Mark Esper lobt zum selben Zeitpunkt die Türkei ausdrücklich dafür, dass sie "von Korea bis Afghanistan" gemeinsam mit den USA gekämpft habe. "Wir können gegen die Türkei im Nahen Osten keinen Krieg anfangen." Das stehe "außer Frage", sagt Esper. Der US-Verteidigungsminister bestätigt dann auch noch, dass die USA aus Nordsyrien "so sicher und schnell wie möglich" abziehen sollen.
Erdoğan meldet sich schließlich doch zu Wort, in Istanbul, auf dem Flughafen. Er will nach Aserbaidschan, zu einem Treffen der Turkstaaten. Der Präsident wirkt schmallippiger als sonst, auf Fragen von Journalisten zur neuen militärischen Lage antwortet er knapp. Es gebe "viele Gerüchte". Dann spricht er von einer "positiven Annäherung" mit Russland, und er schimpft auf die Nato, von der sich die Türkei vergeblich Beistand im Kampf gegen eine "Terrororganisation" erwartet habe. Man müsse sich "langsam fragen", sagt er, ob das damit zusammenhänge, dass die Türkei "das einzige muslimische Land" der Allianz sei.
In der Nacht hatte ein Präsidentenberater getwittert, sollte Assads Armee in den Nordosten Syriens vordringen, werde die Türkei ihr entgegentreten. Es könnte zu "Gefechten" kommen. Diese Ankündigung wiederholt am Montag keiner mehr. Verteidigungsminister Akar macht stattdessen die Runde bei den Vorsitzenden der Oppositionsparteien. Sie hatten - mit Ausnahme der prokurdischen HDP - alle die Offensive von Anfang an unterstützt. Offenbar sieht Akar die Notwendigkeit, die neue Lage doch breiter zu erörtern. In die Mikrofone wartender Journalisten sagt er nach einem dieser Blitzbesuche, Ziel der Türkei bleibe es, "dass kein Terrorkorridor in Syrien entsteht". Wenn es Frieden gebe, "werden wir die Operation beenden".
Wirklich überrascht kann Ankara nicht gewesen sein, dass die Kurden bei Russland und beim syrischen Regime in Damaskus Rettung suchen. Schon nach Trumps Ankündigung im Dezember 2018, die US-Truppen aus Syrien abzuziehen, hatten die syrischen Kurden eine Delegation nach Moskau geschickt. In den vergangenen Monaten hatten die USA laut den YPG zu verhindern versucht, dass die Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) direkt mit dem Regime verhandeln, jenes von den YPG dominierte Milizenbündnis, das offiziell Partner der USA ist. Das Pentagon wollte ihre Gebiete bewahren als Puffer gegen russischen und iranischen Einfluss und die Türkei mit einem Sicherheitsarrangement ruhigstellen, das etwa gemeinsame Patrouillen vorsah. Präsident Trump allerdings durchkreuzte diesen Plan.
Russlands Außenminister Sergeij Lawrow sagte jüngst, Moskau vermittle zwischen dem Regime in Damaskus und den Kurden - angeblich gab es ein Treffen auf dem russischen Luftwaffenstützpunkt Khmeimim bei Latakia. Allerdings erwähnte Lawrow auch eine zweite Schiene russischer Bemühungen, eine Verständigung zwischen dem Assad-Regime und der Türkei, basierend auf dem 1998 geschlossenen Abkommen von Adana.
Ein Deal zwischen Moskau, Ankara und Damaskus ist offen
Damals hatte sich Damaskus verpflichtet, der PKK keinerlei Unterstützung mehr zu gewähren; sie wies PKK-Führer Abdullah Öcalan aus, der in Syrien Zuflucht gefunden hatte. Die Türkei war damals an der Grenze aufmarschiert und drohte mit Invasion. Im Adana-Abkommen wurde ihr zugestanden, "Terroristen" bis zu 15 Kilometer auf syrisches Territorium zu verfolgen. Man kann Lawrows Aussage so lesen, dass Russland eine zeitlich und räumlich begrenzte Militäroperation der Türkei duldet, sofern anschließend das syrische Militär die Kontrolle an der Grenze übernimmt. Das wiederum ist nach kurdischen Angaben Inhalt der vorläufigen Vereinbarung mit dem Regime, die noch keine Festlegungen zum künftigen politischen Status der Kurden in Syrien beinhaltet.
Offen ist, ob es tatsächlich einen Deal oder zumindest ein stillschweigendes Verständnis gibt zwischen Moskau, Ankara und Damaskus - klar ist nur, dass sie alle drei auf den Abzug der US-Truppen gewartet haben. In Tel Tamer rückten Soldaten der syrischen Armee ein und in Manbidsch, die Grenzstadt im Nordwesten, auf die sich auch die türkische Armee zubewegt. Doch dass es zu Gefechten zwischen russischen und türkischen Soldaten kommen könnte, stellt Kreml-Sprecher Dmitrij Peskow in Abrede. "Über ein solches Szenario wollen wir nicht einmal nachdenken", sagt er. Ganz recht dürfte dem Kreml dagegen sein, dass derzeit kaum jemand über die Luftangriffe auf die letzte Rebellenhochburg Idlib spricht, nicht einmal die Türkei, die dort viele Gruppen unterstützt. Sie sind so heftig wie seit Monaten nicht.