Süddeutsche Zeitung

Krieg in Syrien:Die Flüchtlinge von Aleppo überfordern die Türkei

Im türkisch-syrischen Grenzgebiet zieht die nächste humanitäre Katastrophe auf. Das macht Merkels Besuch in Ankara nur noch komplizierter.

Von Mike Szymanski

Süleyman Tapsız ist Gouverneur von Kilis, einer kleinen türkischen Grenzprovinz. Ein paar Kilometer weiter beginnt Syrien. Wenn ein Mann wie Tapsız sagt, die gleichnamige Stadt wolle keine Flüchtlinge mehr aufnehmen, dann kann man ihm nicht vorwerfen, er würde nicht genug tun. Kilis hat 130 000 Bewohner und fast schon genauso viele Flüchtlinge aufgenommen. Kilis ist die türkische Flüchtlingsstadt schlechthin. Was sich aber jenseits der Grenze in den vergangenen Tagen abspielt, das lässt auch Tapsız kapitulieren. Am ersten Tag kamen 10 000, es vergingen keine 48 Stunden, da warteten schon 35 000 Flüchtlinge an der Grenze.

Süleyman Tapsız erzählt dies am Grenzübergang Öncüpınar. Die Grenzwachen lassen so gut wie niemanden mehr in die Türkei. Die Anweisung kommt von ganz oben. Der stellvertretende Ministerpräsident Numan Kurtulmuş verkündete am Sonntag: Die Grenze des Fassungsvermögens sei erreicht. Tapsız erklärt: "Die Neuankömmlinge werden in Lagern auf der syrischen Seite der Grenze aufgenommen."

Neuankömmlinge. Was für ein Wort für diese Gestrandeten. Kinder in Sommerklamotten. Alte. Ausgezehrte. Verängstigte. Der Regen hat die Wege aufgeweicht. Jeder Schritt fällt noch schwerer als ohnehin schon. Ahmet Lutfi Akar, Präsident der Hilfsorganisation türkischer Halbmond, sagt: ,,Wir bereiten uns auf eine neue Flüchtlingswelle vor."

Regierungschef spricht von 70 000 Flüchtlingen

Im türkisch-syrischen Grenzgebiet zieht die nächste humanitäre Katastrophe auf. Nachdem syrische Regierungstruppen mit Luftunterstützung russischer Jets die Schlacht um Aleppo begonnen haben, versuchen sich Zehntausende Syrier vor den Gefechten in Sicherheit zu bringen. Sie fliehen - in Richtung Türkei. Regierungschef Ahmet Davutoğlu spricht von bereits 70 000 Menschen, die unterwegs seien. Das könnte aber erst der Anfang sein.

Die türkische Zeitung Hürriyet schreibt: "Wenn Aleppo fällt, wird eine neue Flüchtlingswelle eine Million Menschen bringen." Das sind keine guten Nachrichten für Kanzlerin Angela Merkel. Sie reist an diesem Montag nach Ankara. Merkel trifft Premier Davutoğlu. Vielleicht auch Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan, ihr Programm stand am Sonntag noch nicht fest.

Merkel will über Flüchtlinge reden. Vor allem darüber, wie man erreichen kann, dass weniger nach Deutschland kommen. Und jetzt reist sie in ein Land, das selbst anfängt, sich abzuschotten.

Heute leben in der Türkei schon zweieinhalb Millionen syrische Flüchtlinge. Für nur zehn bis 15 Prozent von ihnen gibt es Plätze in den mehr als 20 Flüchtlingscamps entlang der Grenze. Die große Mehrheit der Menschen schlägt sich auf eigene Faust in den großen Städten des Landes durch.

Als der Bürgerkrieg in Syrien vor fast fünf Jahren begann, da war die Grenze offen für Flüchtlinge. Die Regierung dachte, die Menschen kehren bald zurück. Aber der Bürgerkrieg nimmt kein Ende. Und jetzt stoßen die Hilfesuchenden auf Grenzsoldaten, die den Weg versperren. Im Grenzdorf Arpakesmez versuchten Flüchtlinge in der Nacht, den Stacheldraht zu überwinden. Vergeblich. Die Grenzer sind sofort zur Stelle.

Noch ist nicht ganz klar, ob die Türken einfach nur Zeit brauchen, um sich auf einen neuen Flüchtlingsansturm vorzubereiten. Oder ob die Politik der offenen Grenze zu Ende ist. Drei Kilometer vor der Grenze entsteht auf syrischem Boden ein Flüchtlingscamp für bis zu 60 000 Menschen. Die türkische Hilfsorganisation IHH fährt mit Lastern hinüber und hilft mit Decken und Lebensmitteln. Die türkische Katastrophenschutzbehörde Afad sei beauftragt, Plätze zu schaffen, heißt es in Ankara. Am Montag könne die Aufnahme beginnen - auch in der Türkei?

Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan sagte im türkischen Fernsehen, wenn die Vertriebenen "vor unseren Türen stehen und keine andere Wahl haben, müssen und werden wir unsere Brüder hereinlassen". Bislang gilt das wohl nur für Verletzte, wie die Praxis an der Grenze zeigt. Die hohe Zahl der Flüchtlinge erinnert die Helfer an 2014, als jenseits der Grenze erbittert um Kobanê gekämpft wurde und 200 000 Flüchtlinge in nur drei Tagen über die Grenze in die Türkei kamen.

Gouverneur Tapsız sieht nur eine Möglichkeit, die Massenflucht noch zu stoppen: Die internationale Gemeinschaft müsse auf Russland einwirken, die Bombardements einzustellen.

Das macht Merkels Besuch in Ankara nur noch komplizierter. Eigentlich dürfte sie sich vorgenommen haben, Härte gegenüber Ankara zu zeigen. Die Kanzlerin hat den EU-Beitrittskandidaten zum Verbündeten in der Flüchtlingskrise gemacht. Die Türkei soll helfen, die Zahl der Flüchtlinge zu reduzieren, die nach Europa kommen.

Dafür bekommt das Land drei Milliarden Euro von der EU, und Merkel öffnet die Tür zum EU-Beitritt wieder einen Spalt. Aber die Zahl der Flüchtlinge geht nicht zurück. Noch immer kommen Tag für Tag etwa 3000 nach Griechenland. Das Schleusergeschäft floriert. Merkel müsse Druck machen, heißt es in diplomatischen Kreisen. Die Türken bräuchten einen "Schuss vor den Bug".

Es ist Merkels zweite Visite in der Türkei in nicht einmal einem halben Jahr. Und gerade erst war Premier Davutoğlu mit einer Delegation zu Regierungskonsultationen in Berlin. Die Ankara-Reise ist kurzfristig angesetzt worden. Das zeigt schon, dass es in der Flüchtlingskrise nicht so läuft, wie Merkel sich das vorstellt. Nichts scheint sich noch planen zu lassen, wie nun die Zuspitzung der Lage an der syrischen Grenze mehr als deutlich macht.

Angesichts der Zehntausenden, die dort warten und Einlass begehren in die rettende Türkei, scheint dieser Montag nicht der richtige Zeitpunkt zu sein für harsche Kritik an der Regierung in Ankara. In der Türkei staunt man ohnehin, wie man in Europa nur glauben könne, das Land brauche lediglich einen Schalter umzulegen, dann kämen keine Flüchtlinge mehr. Die drei Milliarden Euro, die die EU mühsam für die Flüchtlingshilfe zusammengekratzt hat, betrachtet Ankara nur als erste Rate. Um für jene Flüchtlinge aufzukommen, die außerhalb der Lager lebten, brauche man 20 Milliarden Euro, schätzte die Regierung vergangene Woche. Das war vor der jüngsten Massenflucht.

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SZ vom 08.02.2016/tba
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