Krieg in NahostKritik an Israel nach Angriff auf Rafah

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Angehörige trauern um die Opfer eines israelischen Angriffs am Montag auf Rafah im südlichen Gazastreifen.
Angehörige trauern um die Opfer eines israelischen Angriffs am Montag auf Rafah im südlichen Gazastreifen. (Foto: Mohammed Salem/Reuters)

Tel Aviv widersetzt sich dem Spruch des Internationalen Gerichtshofs. In einem Zeltlager sterben mindestens 45 Menschen. Bei einem Schusswechsel an der Grenze wird ein ägyptischer Soldat getötet.

Von Peter Münch, Tel Aviv

Einem Spruch des Internationalen Gerichtshofs zum Trotz wird in Rafah weiter gekämpft und weiter gestorben. Bei einem israelischen Luftangriff in der Nacht zum Montag sind nach Angaben der Behörden im Gazastreifen mindestens 45 Menschen getötet und Dutzende weitere verletzt worden, nachdem ein Zeltlager für Flüchtlinge in Flammen aufgegangen war. Die Palästinenser klagen über ein "Massaker". Israels Armee sprach zunächst von einem "gezielten Angriff" auf eine Hamas-Stellung und kündigte später eine eingehende Untersuchung des Vorfalls an. Der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu nannte den Luftangriff am Montag einen "tragischen Fehler".

Weltweit wuchs erneut die Kritik an Israels Art der Kriegsführung, und für weitere Anspannung dürfte ein Schusswechsel am Grenzübergang Rafah zwischen israelischen und ägyptischen Soldaten sorgen, bei dem ein Ägypter getötet wurde.

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Das in Flammen aufgegangene Zeltlager befindet sich laut Rotem Halbmond in einem Areal, das als humanitäre Zone ausgewiesen worden sei für jene Menschen, die wegen der israelischen Bodenoffensive aus den Kampfgebieten in Rafah geflüchtet waren. Die israelische Armee widersprach: Der Angriff habe "im Widerspruch zu den Lügen und Fehlinformationen der Hamas" nicht in einer humanitären Zone stattgefunden.

Die Aufforderung des Internationalen Gerichtshofs interpretiert Israel auf seine Weise

Die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen zeigte sich "entsetzt angesichts dieses tödlichen Vorfalls, der einmal mehr zeigt, dass es nirgends sicher ist". Das UN-Palästinenserhilfswerk UNRWA bezeichnet den Gazastreifen als "Hölle auf Erden".

(Foto: SZ-Grafik)

Vonseiten der israelischen Armee hieß es in einer ersten Stellungnahme, der Angriff mit "präziser Munition" habe sich gegen legitime Ziele gerichtet, zwei hohe Hamas-Mitglieder seien getötet worden. Berichte, dass wegen des Luftangriffs ein Feuer ausgebrochen sei, würden überprüft. Israels oberste Militärstaatsanwältin bezeichnete den Vorfall später als "sehr schwerwiegend".

Der Internationale Gerichtshof (IGH) in Den Haag hatte erst am Freitag in einer aufsehenerregenden Entscheidung Israel aufgefordert, die Offensive in Rafah sofort einzustellen, wenn dadurch Zivilisten bedroht würden. Israels Regierung hat das zurückgewiesen und den Richterspruch dabei auf eigene Art interpretiert. "Wir wurden aufgefordert, keinen Völkermord in Rafah zu begehen", erklärte dazu der Nationale Sicherheitsberater Tzachi Hanegbi - und folgerte daraus, dass unterhalb dieser Schwelle und bei erklärter Rücksichtnahme auf die Zivilbevölkerung die Kämpfe weitergehen könnten.

Die US-Regierung verhält sich zunächst abwartend

Mit dieser Interpretation allerdings steht Israel weitgehend allein da. Bundesaußenministerin Annalena Baerbock mahnte Israel am Montag am Rande eines EU-Außenministertreffens, die IGH-Entscheidung anzuerkennen und umzusetzen. Ebenso forderte der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell ein Ende der Kämpfe in Rafah. Scharf verurteilt wurde Israel von mehreren arabischen Staaten. Das ägyptische Außenministerium warf der Armee eine "absichtliche Bombardierung der Zelte der Geflüchteten" vor. UN-Generalsekretär António Guterres verurteilte den Luftangriff auf das Zeltlager. "Dieser Horror muss aufhören", teilte er mit.

Bundesaußenministerin Annalena Baerbock mahnte Israel am Rande eines EU-Außenministertreffens, die IGH-Entscheidung umzusetzen.
Bundesaußenministerin Annalena Baerbock mahnte Israel am Rande eines EU-Außenministertreffens, die IGH-Entscheidung umzusetzen. (Foto: Kira Hofmann/Imago)

Abwartend verhielt sich zunächst die US-Regierung. Ihr wird für das weitere Vorgehen der internationalen Gemeinschaft nach der IGH-Anordnung eine Schlüsselrolle zukommen. Präsident Joe Biden persönlich hatte Israel schon lange vor dem Haager Richterspruch vor einer Rafah-Offensive gewarnt, weil in dieser letzten Hochburg der Hamas rund 1,4 Millionen Zivilisten Zuflucht gesucht hatten. Mit einem militärischen Vorgehen dort werde eine "rote Linie" überschritten.

Nach Beginn der Bodenoffensive Anfang Mai hatte sich Washington aber offenkundig von der israelischen Erklärung besänftigen lassen, dass nur eine "begrenzte Operation" mit großer Vorsicht ausgeführt werde. Allerdings wurde Medienberichten zufolge inzwischen mit fünf Divisionen, schätzungsweise rund 10 000 Soldaten, eine erhebliche Streitmacht rund um Rafah zusammengezogen. Die Toten infolge des jetzigen israelischen Luftangriffs könnten nun auch in Washington als Beleg dafür genommen werden, dass der Schutz von Zivilisten unter den gegebenen Umständen kaum zu bewerkstelligen ist.

Um der völkerrechtlich bindenden IGH-Entscheidung zur Einstellung der Kämpfe in Rafah Nachdruck zu verleihen, wird voraussichtlich bald der UN-Sicherheitsrat eingeschaltet. Dort müssten die USA dann entscheiden, ob sie Israel - trotz grundsätzlicher Übereinstimmung mit der Forderung aus Den Haag - mit einem Veto vor möglichen Sanktionen schützen.

Der blutige Vorfall in Rafah könnte auch negative Auswirkungen auf Verhandlungen über einen Geiseldeal und eine Waffenruhe haben. Nachdem sich Ende voriger Woche hohe Vertreter aus den USA, Israel und Katar in Paris getroffen hatten, war eigentlich für die kommenden Tage eine Wiederaufnahme der Gespräche angekündigt worden. Am Montag aber warnten die katarischen Vermittler vor neuen Hindernissen und forderten die internationale Gemeinschaft auf, das "Verbrechen eines Völkermords" in Rafah zu verhindern.

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