Süddeutsche Zeitung

Krieg in Libyen:Warum Gaddafis Militärmaschinerie plötzlich zusammenbricht

Innerhalb weniger Stunden haben Rebellen die libysche Hauptstadt Tripolis fast komplett erobert. Die Öffentlichkeit fragt sich, wieso die Blitzoffensive so erfolgreich sein konnte: Welche Rolle spielen dabei die Amerikaner? Wie wirkt sich der blutige Machtwechsel auf die Weltwirtschaft aus und wo steckt Diktator Muammar al-Gaddafi?

Johannes Aumüller und Oliver Das Gupta

"Operation Meerjungfrau" nennen die Aufständischen den Sturm auf Tripolis, der am Samstag begonnen hat. Seit Ausbruch der Kämpfe vor etwa einem halben Jahr veränderten sich die Fronten in diesem Krieg nur langsam. Nun brach die Verteidigung der Hauptstadt plötzlich zusammen: Das Regime des Diktators Muammar al-Gaddafi ist militärisch kollabiert. Mehrere Faktoren dürften den schnellen Vormarsch der Rebellen begünstigt haben:

Wieso können die Rebellen so schnell auf Tripolis vorrücken?

Die Aufständischen bewegten sich in einer Zangenbewegung auf die Hauptstadt zu: Sie drangen sowohl vom Westen als auch vom Süden nach Tripolis vor - die doppelte Front scheint die verbliebenen Kräfte des Regimes überfordert zu haben.

Zudem haben die Rebellen in den vergangenen Tagen die strategisch wichtigen Städte Sawijah und Slitan erobert, das setzte den Marsch auf Tripolis in Gang. Auch vermeintlich kleinere Vorstöße zeigten große Wirkung: Am Sonntagnachmittag nahmen die Gaddafi-Gegner etwa eine Kaserne westlich der Hauptstadt ein und versorgten sich dort mit Waffen und Munition. Die Militäranlage galt bis dahin als eines der größten Hindernisse auf dem Weg nach Tripolis.

Seit Ausbruch des Krieges wechselten außerdem immer mehr Gaddafi-Getreue die Seiten. Zuletzt setzten sich drei hohe Regierungsvertreter ab, darunter Innenminister Nasser al-Mabruk Abdullah. Andere Vertraute des Diktators wie Geheimdienstchef Abdullah Senussi kamen möglicherweise durch Nato-Bomben ums Leben. Durch den Ausfall solch wichtiger Schlüsselfiguren war das Regime äußerst destabilisiert. Selbst die Präsidentengarde soll sich inzwischen ergeben haben.

Auch die Bombardements der Nato und ihrer arabischen Verbündeten schalteten in diesen Tagen Kommandozentralen und schwere Waffen der Regierungstruppen aus: Nach knapp 7500 Luftschlägen in den vergangenen fünf Monaten ist Gaddafis Armee ausgeblutet.

Inwieweit arbeiten Rebellen und Nato bei der Offensive auf Tripolis zusammen?

Es sieht so aus, als trüge die Hilfe der USA erheblich zum Erfolg der Rebellenoffensive bei. In den vergangenen Tagen hätten die Vereinigten Staaten rund um die Uhr aus der Luft die Gebiete überwacht, die noch unter Kontrolle der Streitkräfte von Machthaber Gaddafi gestanden hätten, berichtete die New York Times unter Berufung auf namentlich nicht genannte Regierungsvertreter. Predator-Drohnen hätten Einheiten Gaddafis aufgespürt, verfolgt und gelegentlich auf sie gefeuert.

Auch Tornados der britischen Luftwaffe bombardierten Gaddafi-Truppen nach Hinweisen der Rebellen, schreibt der Guardian. Zur gleichen Zeit hätten Spezialkräfte aus Großbritannien, Frankreich und anderen Ländern geholfen, die Kämpfer der Rebellen auszubilden und zu bewaffnen. Ein westlicher Diplomat sagte der New York Times, allen sei bewusst gewesen, dass das Gaddafi-Regime an einen Punkt gelangen werde, an dem es seine Streitkräfte nicht mehr befehligen und kontrollieren könne. Die Luftangriffe hätten nicht nur die militärische Infrastruktur zerstört, sondern die Kontrolle der Kommandeure über ihre Truppen stark beeinträchtigt. Selbst entschlossene Kampftruppen seien nicht mehr in der Lage gewesen, ihre Aktionen zu koordinieren.

Wann ist der Kampf um Tripolis vorbei?

Die Entscheidung im innerlibyschen Krieg mag gefallen sein, doch Frieden gibt es wohl so schnell nicht: Rebellenchef Mahmud Dschibril dämpfte den Jubel: "Der Kampf ist noch nicht beendet." Auch US-Regierungsvertreter warnen in der New York Times vor zu großem Optimismus: Es könnten noch Tage oder gar Wochen vergehen, bis das Militär völlig zusammenbreche oder Gaddafi und sein engster Kreis den Kampf aufgeben.

Nach Rebellenangaben kontrollieren Gaddafis Truppen noch fünf bis 15 Prozent der Hauptstadt. Gaddafis Kommando- und Wohnkomplex Bab al Asisija ist noch in der Hand regimetreuer Einheiten, ebenso sei der Zugang des von Journalisten bewohnten Rixos-Hotel von ihnen kontrolliert. Der Sender al-Dschasira berichtet, die dort befindlichen Presseleute seien "menschliche Schutzschilde".

Selbst nach dem Fall von Tripolis könnten Gaddafis Anhänger aus Verstecken heraus den Kampf fortsetzen. Auch die Region um die Stadt Sirte wird nach wie vor von dem Regime kontrolliert. Viele Bewohner sind dort gegen einen Machtwechsel: Sie haben als Bewohner von Gaddafis Geburtsstadt von seiner Herrschaft besonders profitiert.

Wo ist Muammar al Gaddafi?

Niemand weiß, wo sich der Noch-Machthaber derzeit befindet. Doch es gibt Gerüchte: Manche meinen, er verstecke sich in Tripolis in seinem zur Zeit heftig umkämpften Kommandokomplex Bab al Asisija und wolle dort bis zum Ende ausharren. Andere glauben, auf dem Flughafen von Tripolis stünden zwei südafrikanische Maschinen bereit, um Gaddafi aus dem Land zu bringen. Es gibt auch Spekulationen darüber, dass er sich in ein unterirdisches Tunnelsystem geflüchtet habe, das er einst zur Wasserversorgung anlegen ließ.

Gaddafis vorerst letztes Lebenszeichen stammt vom späten Sonntagabend: Zum dritten Mal innerhalb von 24 Stunden hatte er sich in einer Audio-Botschaft an seine Anhänger gewandt. "Ihr müsst auf die Straße gehen, um die Ratten und Verräter zu bekämpfen", rief er. "Alle Stämme müssen nach Tripolis marschieren, um es zu beschützen. Wenn nicht, werdet Ihr Sklaven der Kolonialisten werden." Plötzlich stoppte seine Stimme. Für die Unterbrechung der Nachricht gab es keine Erklärung.

Welche Mitglieder des Gaddafi-Clans sind in der Hand der Rebellen?

Bislang konnten die Aufständischen drei Söhne des Machthabers gefangennehmen. Saif al-Islam und Al-Saadi wurden in einem Touristendorf festgesetzt, erklärte ein Sprecher der Aufständischen, Abu Bakr al-Tarbulsi. Der älteste Sohn, Mohammed al-Gaddafi, wurde in seinem Anwesen unter Hausarrest gestellt. Die Aufständischen würden für seine Sicherheit garantieren, sagte Mohammed al-Gaddafi in der Nacht zum Montag in einem Telefoninterview des Fernsehsenders al-Dschasira.

Was passiert mit den festgenommenen Mitgliedern des Gaddafi-Regimes?

Es besteht zwar die Gefahr, dass die Aufständischen auch wehrlosen Anhängern Gewalt antun, doch die Spitze der Gaddafi-Gegner versucht dies zu verhindern. So erklärte Rebellenführer Mahmud Dschibril in einer Fernsehansprache: "Rächt Euch nicht, plündert nicht, greift keine Ausländer an und achtet die Gefangenen." Niemand dürfe Gefangene töten, auch dann nicht, wenn es sich um Vertraute Gaddafis, seine Kinder oder seine Familie handelt. Die Übergangszeit biete eine gute Möglichkeit, "alle die Rechte vorzuleben, für die wir gekämpft haben", sagte Dschibril weiter, der als Regierungschef der Rebellen fungiert.

Gegen Gaddafi, seinen Sohn Saif al-Islam und seinen Schwager, den Geheimdienstchef Abdullah Senussi, liegen internationale Haftbefehle vor. Ihnen werden schwere Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorgeworfen. Der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofes (IStGH), Luis Moreno-Ocampo, rief den libyschen Übergangsrat in Bengasi deshalb auf, Saif al-Islam nach Den Haag zu überstellen. Offensichtlich verhandeln die Aufständischen bereits mit dem Tribunal über eine Überstellung des Diktatoren-Sohnes.

Welche Folgen hat die Entwicklung in Tripolis für die Weltwirtschaft?

Vor allem ein Produkt macht Libyen so bedeutsam für die Weltwirtschaft: das Öl. Rund 1,5 Millionen Barrel betrug die tägliche Produktion des Landes, bevor der Krieg zwischen Regime und Rebellen begann; das waren im vergangenen Jahr immerhin zwei Prozent der weltweit benötigten Ölmengen. Die Reserven des Landes betragen 5,7 Milliarden Tonnen - so viel wie in keinem anderen afrikanischen Land. Zudem gilt libysches Öl als sehr hochwertig.

Besonders wichtig ist die libysche Ölproduktion für Deutschland. 85 Prozent des libyschen Ölexports gingen im vergangenen Jahr nach Europa: Das meiste davon nach Italien (etwa 40 Prozent). Techniker des italienischen Öl-Giganten Eni sind bereits in Libyen eingetroffen, um zu untersuchen, wie schnell die Ölförderung in Libyen wieder aufgenommen werden kann. Das erklärte Italiens Außenminister Franco Frattini im italienischen Staatsfernsehen.

Hinter Italien folgt Deutschland (etwa 13 Prozent). Damit war Libyen der fünftwichtigste Rohöl-Lieferant für die Bundesrepublik. Insgesamt importierte Deutschland Rohöl und Erdgas im Wert von drei Milliarden Euro.

In den vergangenen Monaten war die Lage auf Libyens Ölfeldern ziemlich unübersichtlich, teilweise war die Produktion eingebrochen. Nun ist noch völlig offen, wie schnell diese wieder anlaufen und effizient organisiert werden kann. Analysten halten es für realistisch, dass das Land innerhalb weniger Monate auf ein Fördervolumen von gut einer Million Barrel pro Tag kommen kann. Dennoch reagierten die Märkte bereits auf den sich abzeichnenden Regime-Wechsel. Der Ölpreis, der zu Kriegsgewinn auf ein Zweieinhalbjahres-Hoch angestiegen war, fiel am Montag: Die Nordsee-Sorte Brent verbilligte sich um bis zu 3,2 Prozent auf 105,15 Dollar je Fass. Allerdings war der Ölpreis angesichts der von vielen befürchteten Rezession schon in den vergangenen Tagen gesunken.

Die Vorfälle in Libyen dürften dafür sorgen, dass sich dieser Trend auch in den kommenden Tagen verstärkt, Benzin könnte also etwas billiger werden. Doch Experten glauben nicht, dass der Machtwechsel in Libyen über einen gesunkenen Ölpreis hinaus massive Auswirkungen auf die Finanzmärkte und die Weltwirtschaft hat. "An den Finanzmärkten herrscht Angst vor Rezession und Überschuldung, da ist der sinkende Ölpreis aufgrund der politischen Veränderungen in Libyen nur eine kleine Facette", sagte Ulrich Kater, Chefvolkswirt der Dekabank. "Natürlich sinken die Benzinpreise, natürlich dämpft das die Inflationssorgen, aber Libyen ist nicht das wahre Thema der Finanzmärkte."

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