Der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) in Den Haag hat Haftbefehle gegen Muammar al-Gaddafi und zwei seiner engsten Verbündeten erlassen. Dem libyschen Staatschef sowie seinem Sohn Saif al-Islam und seinem Schwager, Geheimdienstchef Abdullah Senussi, werden Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorgeworfen - darunter Morde an Hunderten von Zivilisten, Folter, die Verfolgung unschuldiger Menschen und die Organisation von Massenvergewaltigungen zur Einschüchterung der Bevölkerung. Außerdem wird ihnen der Versuch zur Last gelegt, die mutmaßlichen Verbrechen zu vertuschen.
Gaddafi, sein Sohn und sein Schwager seien im strafrechtlichen Sinne persönlich für die Verbrechen verantwortlich, die zur Niederschlagung des Volksaufstandes in Libyen begangen worden seien, sagte Chefankläger Luis Moreno Ocampo. Er legte dem Gericht eine mehr als 70 Seiten umfassende Anklageschrift mit mehr als 1200 einzelnen Dokumenten vor.
Durch die Haftbefehle sind nun alle 116 Mitgliedsstaaten des IStGH verpflichtet, den 69-jährigen Gaddafi und die Mitangeklagten als mutmaßliche Kriegsverbrecher festzunehmen, sobald sie die Möglichkeit dazu bekommen. Gaddafi hat allerdings trotz andauernder Nato-Luftangriffe erklärt, er werde kämpfen bis zum Tod. An diesem Montag erschütterten zwei Explosionen die Umgebung einer Residenz Gaddafis in Tripolis. Rauch stieg in der Nähe der Anlage Bab al-Asisija auf, Kampfjets der Nato waren wenig später über der Gegend zu hören. Es gilt aber als unwahrscheinlich, dass sich Gaddafi in dem Gebäude aufhielt.
Nach Einschätzung einiger Diplomaten in Den Haag könnten die Haftbefehle eine Verhandlungslösung erschweren. Als nunmehr offiziell gesuchter mutmaßlicher Kriegsverbrecher werde Gaddafi möglicherweise nicht bereit sein, in ein Exilland zu gehen, hieß es.
Auch nach Ansicht des südafrikanischen Präsidenten Jacob Zuma erschwert der Haftbefehl die afrikanischen Friedensbemühungen. Zuma sei "extrem enttäuscht und besorgt" über die Entscheidung der Richter, ließ er über seinen Sprecher mitteilen.
Moreno Ocampo erklärte hingegen, es gebe keine Alternative dazu, den Diktator konsequent zu verfolgen. "Um die Verbrechen in Libyen zu stoppen und die Zivilbevölkerung zu schützen, muss Gaddafi festgenommen werden", sagte der Chefankläger kurz vor der Bestätigung der Haftbefehle. Er hatte sie am 16. Mai beantragt.
Bundesaußenminister Guido Westerwelle sieht den Haftbefehl ebenfalls positiv: "Die Entscheidung des Internationalen Strafgerichtshofes ist ein unmissverständliches Signal, dass Diktatoren und ihre Helfer nicht außerhalb des Rechts stehen, sondern sich für ihre Taten verantworten müssen."
Nach Ansicht des Nato-Generalsekretärs Anders Fogh Rasmussen bestätigt die Entscheidung Moreno Ocampos "die zunehmende Isolierung des Gaddafi-Regimes". Er sieht den Haftbefehl auch als Bestätigung für den Luftkrieg des Militärbündnisses: "Er verstärkt die Gründe für den Einsatz der Nato zum Schutz der Zivilbevölkerung vor Gaddafis Truppen."
Auch die Aufständischen in Libyen begrüßten den Haftbefehl gegen Gaddafi. "Jetzt gibt es für ihn keinen Fluchtort mehr", sagte der Sprecher des Nationalen Übergangsrates in Bengasi, Mustafa al-Gherijani, der Nachrichtenagentur dpa. Er fügte hinzu: "Wir wollen Gaddafi am liebsten selbst gefangen nehmen, und zwar in Libyen. Und wir wollen ihn auch in Libyen vor Gericht stellen, damit jeder Libyer das Gefühl hat, dass auch ihm persönlich Gerechtigkeit widerfahren ist, und damit diese Akte geschlossen werden kann."
Die Menschenrechtsgruppe Human Rights Watch unterstützt den Haftbefehl ebenfalls. Der Schritt des Internationalen Strafgerichtshofs zeige, "dass das Recht auch die erreicht, die sich lange für immun gehalten haben", erklärte die Organisation in New York. Ihr Justizexperte Richard Dicker glaubt nicht, dass der Haftbefehl Gaddafi noch sturer machen wird: "Es ist kaum anzunehmen, dass ein Diktator, der mehr als 40 Jahre an der Macht festhält, nun nur wegen eines Haftbefehls auf seinem Platz bleiben will."
Weiter Verluste auf beiden Seiten
Gaddafi ist erst der zweite amtierende Staatschef, gegen den das Gericht Haftbefehl erlässt: 2008 wurde diese Maßnahme gegen Sudans Präsidenten Omar al-Baschir ergriffen.
Die Rebellen in Libyen rückten unterdessen nach eigenen Angaben bis auf 80 Kilometer vor die Hauptstadt Tripolis vor. Es ist ihr größter Geländegewinn seit Wochen. Die Rebellen in den westlichen Bergen kämpften gegen die Truppen von Staatschef Gaddafi um die Kontrolle über die Stadt Bir al-Ghanem, sagte einer ihrer Sprecher der Nachrichtenagentur Reuters am Montag per Telefon. Dies sei ein Vorstoß von etwa 30 Kilometern von ihrer früheren Position.
Bei Kämpfen am Sonntag habe es Verluste auf beiden Seiten gegeben. Die Rebellen hätten Material und Fahrzeuge erobert. Den Tag über sei es bisher ruhig gewesen, die Rebellen seien weiter in ihren Stellungen. Den Aufständischen in ihrer Hochburg im Osten und den Enklaven im Westen war zuvor wochenlang kein größerer Vorstoß mehr gelungen.
Im Nachbarland Tunesien liefen unterdessen einer Meldung der tunesischen Nachrichtenagentur TAP zufolge Gespräche zwischen drei libyschen Ministern und nicht näher genannten "mehreren ausländischen Parteien". Auch der libysche Außenminister sei an den Verhandlungen auf der Insel Djerba nahe der libyschen Grenze beteiligt. Die Führung der libyschen Rebellen hatte vergangene Woche jedoch erklärt, sie stehe über ausländische Unterhändler im Kontakt mit der Gaddafi-Regierung über eine friedliche Lösung des Konflikts.