Krieg in Libyen:Folter hinter Gittern

Drohungen, Prügel, Todesangst: In den Gefängniszellen der gestürzten libyschen Regierung erlebten Regime-Gegner Schreckliches. Menschenrechtsorganisationen und Vertreter der neuen Regierung befürchten nun, dass in Tripolis demnächst noch mehrere Massengräber mit Opfern von Massenhinrichtungen gefunden werden.

Tomas Avenarius, Tripolis

Der junge Mann schaut verunsichert in den Laderaum des dunkelblauen Gefängniswagens, steigt zögerlich hinein. Er zwängt sich in eine der sieben winzigen Zellen, in die der Transporter unterteilt ist: "In genau diesem Wagen, in genau dieser Zelle wurde ich vier Tage festgehalten", sagt Abu Bakr Tabib. "Kein Sauerstoff, unerträgliche Hitze. Wir bekamen 30 Stunden lang weder Wasser noch Essen, mussten in die Hose machen. Der Gestank war unerträglich."

Krieg in Libyen: Ein Libyer läuft einen Gang im berüchtigten Zentralgefängnis Abu Salim in Tripolis entlang.

Ein Libyer läuft einen Gang im berüchtigten Zentralgefängnis Abu Salim in Tripolis entlang.

(Foto: AP)

Der Gefängniswagen steht in der prallen Sonne auf dem Hof eines Lagergeländes, rundherum ein paar Baracken und eine ausgebrannte Wellblechhalle, in der es nach Verwesung riecht. Der Laster, so groß wie ein Geldtransporter, ist unterteilt in sieben hundehüttenartige Zellen: Der Gefangene sitzt auf einem Blechbrett, die Hände daran angekettet. Der Kopf stößt an die Decke, die Knie berühren die Stahltüre. Tabib schaut auf seine Zelle: "Ich dachte damals, ich bin eigentlich schon tot."

Der junge Libyer, der die rot-schwarz-grüne Fahne der Aufständischen aus Bengasi in der Hauptstadt Tripolis an Häuser gesprüht hatte, war im Juli mit seinem Bruder in seiner Wohnung festgenommen worden. Ein Regimespitzel hatte die beiden angezeigt.

Tabib und sein Bruder Faisal wurden in den ersten vier Tagen ihrer Haft im Juli immer wieder aus dem Wagen gezerrt, verhört, beschimpft, geschlagen. Seine Peiniger drohten, Tabib zu erschießen: "Du magst Gaddafi nicht? Dafür werde ich dich eigenhändig töten." Nach vier Tagen wurden sie ins berüchtigte Zentralgefängnis Abu Salim gebracht. Dort wurden sie vor wenigen Tagen mit Tausenden anderen von Rebellen befreit, die Tripolis gerade erobert hatten.

Dutzende verbrannte Leichen in einer Lagerhalle

Tabib und Faisal können froh sein, dass sie mit dem Leben davonkamen: Am Vortag waren in der Halle, vor der der Gefängniswagen steht, noch mehr als vier Dutzend verbrannte Leichen gelegen. Es waren die sterblichen Überreste von Gefangenen des Gaddafi-Regimes. Überlebende des Massakers in dem provisorischen Gefängnis nahe des internationalen Flughafens von Tripolis berichteten, drei oder vier Milizionäre hätten Handgranaten in die Lagerhalle geworfen, während andere Soldaten vom Dach aus mit Maschinenpistolen auf die Wehrlosen Gefangenen schossen. Später wurde das Gefängnis in Brand gesteckt.

Unter den Opfern des Massakers waren neben Zivilisten offenbar auch ein paar Gaddafi-Soldaten - sie sollen den Schießbefehl verweigert haben. Die Soldaten seien vor der Massenexekution aus dem Lagerhaus geholt und auf dem Hof erschossen worden. Dann hätten die Milizionäre begonnen, die Zivilisten in der Halle zu ermorden.

Vertreter der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch zählten die sterblichen Überreste von mindestens 45 Menschen in der ausgebrannten Wellblechhalle. Die Organisation geht aber von etwa 150 Toten allein in diesem Gefängnis aus: Manche Opfer waren bereits bestattet worden. Nur etwa 20 Menschen hätten während der Massenhinrichtung fliehen können.

Fathallah Abdallah ist einer von ihnen: Er konnte davonrennen, während die schießenden Soldaten stundenlang ihre Waffen nachluden. Der alte Mann floh aus dem Schuppen, versteckte sich unter einem der Gefängnis-Lastwagen auf dem Hof. Der BBC sagte er, dass die Wächter "immer wieder auf die Verletzten feuerten. Das ging so bis zwei oder drei Uhr nachts. Wer noch atmete, wurde umgebracht".

Abdallah verlor mindestens zwei seiner drei Söhne bei dem Massaker: Sie waren mit ihm im August in der Stadt Zlitan festgenommen worden. Der Libyer will in den Tagen vor dem Massenmord 150 Menschen in der Halle gesehen haben. Die Zustände seien furchtbar gewesen: "Die Menschen wurden hineingepfercht wie die Tiere. Wir lagen aufeinander, wir konnten den Boden mit den Füßen nicht erreichen."

Spekulationen um Massengräber

Auf dem Gelände mit dem Lagerhaus stehen noch drei Schaufelbagger vor zwei ausgehobenen Gruben - auf dem Hof wurden Massengräber gefunden. Anwohnern zufolge wurde das Gelände seit Mai als Gefängnis benutzt. Auch ein Mitarbeiter der BBC, der bei den Kämpfen vor Bengasi im Frühsommer von Gaddafi-Soldaten festgenommen, nach Tripolis gebracht und später freigelassen worden war, erkannte den Ort jetzt wieder.

Das Verhörgefängnis in Khalida Ferjan an der Straße zum Flughafen liegt nur einen Kilometer von der Kaserne der berüchtigten Chamis-Brigade entfernt. Die von Gaddafis Sohn Chamis befehligte 32. Brigade war die Eliteeinheit des Regimes: Sie wird für viele Gräueltaten verantwortlich gemacht. Die Kaserne war in den vergangenen Monaten mehrfach von der Nato bombardiert worden. Die Rebellen meldeten wiederholt, Chamis sei getötet worden, was die Nato bislang nicht bestätigt.

Rund um die große Militäranlage liegen ausgedehnte Felder. Hier könnten große, noch nicht entdeckte Massengräber liegen. Vertreter der neuen libyschen Regierung und Menschenrechtsorganisationen befürchten, dass in den kommenden Wochen viele Opfer von Massenhinrichtungen in der Hauptstadt gefunden werden könnten.

Nach Angaben der Rebellen wurden nach der Einnahme von Tripolis zwar 10.000 Gefangene befreit: Zahlreiche saßen im berüchtigten Abu Salim-Gefängnis, in dem das Regime 1996 an einem einzigen Tag 1200 politische Gefangene exekutiert hatte. Die Zahl der in den Monaten des Aufstands Gefangenen soll aber wesentlich höher sein. Der Nationale Übergangsrat erklärte, er gehe von 50.000 bis 67.000 Verhafteten allein in den vergangenen sechs Monaten aus. Zudem errechneten die Rebellen, dass in den vergangenen sechs Monaten im Kampf gegen Gaddafi insgesamt 50.000 Kämpfer und Zivilisten getötet wurden.

Der junge Libyer Abu Bakr Tabib erkannte den Ort des Schreckens nur durch Zufall wieder. "Ich habe gestern Fernsehen geschaut. In einem Bericht über die verbrannten Leichen in einer Lagerhalle erkannte ich die Gebäude wieder, die ich damals aus dem winzigen Fenster des Gefängniswagens sehen konnte." Er setzt sich in sein Auto: "Einen der Offiziere, die mich damals beim Verhör geschlagen haben, kenne ich. Jetzt fahre ich zum Büro des Rats der Stadt Tripolis und zeige ihn an."

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: