Süddeutsche Zeitung

Krieg in Libyen:Rebellen erobern Zentrum von Tripolis - Gaddafi vor Niederlage

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"Libyens Hauptstadt entgleitet dem Griff eines Tyrannen": Die Rebellen haben offenbar das Zentrum von Tripolis unter ihre Kontrolle gebracht, Menschen feiern bereits auf den Straßen - doch um die Gaddafi-Residenz sind am Morgen wieder schwere Kämpfe entbrannt. Der Diktator hatte bis zuletzt zum Kampf um die Hauptstadt aufgerufen.

Es ist ein Uhr deutscher Zeit, da überschlagen sich die Nachrichten aus Tripolis. Die Rebellen haben den Grünen Platz in der Stadt erreicht, der auch Platz der Märtyrer genannt wird, twittern Korrespondenten aus der libyschen Hauptstadt. Ein riesiges Poster des Machthabers Muammar al-Gaddafi sei heruntergeschossen worden, viele, viele Menschen würden feiern, "Gott ist groß" rufen und: "Wir sind frei!". Am frühen Montagmorgen ist Tripolis dann nach Angaben der Rebellen bis auf wenige Widerstandsnester vollständig in der Hand der Regimegegner.

Fernsehsender übertragen den Jubel auf dem zentralen Platz, binnen Sekunden durch Standbilder festgehalten, im Internet, für die Ewigkeit. Das Staatsfernsehen kann dagegen keine aktuellen Bilder mehr senden, sondern nur Wiederholungen, Sendestörung, teilen die Verantwortlichen mit.

Die Botschaft dieser Nacht: Das Ende von Gaddafis Herrschaft ist gekommen. Auch wenn sich Soldaten und Rebellen in der Nähe des Gebäudekomplexes des Staatschefs am Montagmorgen noch einmal heftige Gefechte lieferten. Rebellensprecher Mohammed Abdel Rahman erklärte, Panzer seien am Montag von dem Gelände gefahren und hätten geschossen. Ein Reporter der Nachrichtenagentur AP in einem nahe gelegenen Hotel hörte Schüsse und Explosionen, die seit mehr als einer halben Stunde andauerten. Abdel Rahman sagte, Gaddafis Soldaten stellten weiterhin eine Bedrohung für den Vormarsch der Rebellen dar.

Doch das Land feiert nach 42 Jahren trotzdem schon das Ende des Regimes. "Wir gratulieren dem libyschen Volk zum Sturz von Muammar al Gaddafi und rufen das libysche Volk auf, auf die Straßen zu gehen und das öffentliche Eigentum zu beschützen. Lang lebe das freie Libyen", heißt es in einer am Morgen verbreiteten Erklärung des Übergangsrates, berichtete die New York Times auf ihrer Website. Auch den Sitz der staatlichen Telefongesellschaft im östlichen Vorort Tadschura kontrollieren offenbar die Rebellen. Handybesitzer erhielten eine SMS, mit der der Nationale Übergangsrat dem libyschen Volk "zum Fall von Muammar Gaddafi" gratuliert.

Die Leibgarde des Machthabers habe die Waffen niedergelegt, hatte zuvor schon ein Sprecher der Rebellen vom Nationalen Übergangsrat verkündet - und außerdem, dass man Gaddafis Sohn Saif al-Islam festgenommen habe, der zuvor noch Durchhalteparolen ausgegeben hatte. Die Kämpfer seien angewiesen worden, ihn gut zu behandeln, damit er sich einem Gerichtsverfahren stellen könne, sagte der Übergangsratspräsident Mustafa Abd el-Dschalil dem Sender al-Dschasira. Gegen Saif al-Islam hatte der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag kürzlich ebenso wie gegen seinen Vater einen Haftbefehl wegen schwerer Kriegsverbrechen erlassen. Der Internationale Strafgerichtshof war es denn auch, der - ebenfalls gegen ein Uhr - offiziell bestätigte, dass Saif al-Islam tatsächlich gefasst ist.

Auch zwei weitere Söhne Gaddafis sind nach Angaben der Aufständischen festgesetzt worden. Al-Saadi, der zuletzt Präsident des libyschen Fußballverbandes war, sei in einem Touristendorf im Westen der Hauptstadt festgesetzt worden. Außerdem habe sich der älteste Sohn des Diktators ergeben, Mohammed al Gaddafi, der das Nationale Olympische Komitee führte und außerdem zwei Mobilfunkunternehmen besaß. Rebellensprecher Sadik al Kibir sagte, Mohamed al Gaddafi habe Garantien für seine Sicherheit verlangt. Der Gaddafi-Sohn selbst erklärte in einem Telefonnterview des arabischen Fernsehsenders al-Dschasira, sein Haus sei von Kämpfern umstellt, die Rebellen hätten ihm Sicherheit garantiert.

Jubelnde Menschen begrüßen die Aufständischen

Die Rebellen berichten, bis auf einige Gaddafi-treue Viertel habe man fast die ganze Stadt eingenommen. Viele Soldaten seien gefangen genommen worden. Andere würden immer noch Widerstand leisten. Gaddafis Regierungssprecher Mussa Ibrahim sagte am Sonntagabend, in Tripolis habe es mindestens 1300 Tote gegeben. Offenbar stießen die Rebellen jedoch auf weniger Widerstand als erwartet, als sie von Westen her in die Hauptstadt eindrangen. Al-Dschasira zeigte schon tagsüber, wie jubelnde Menschen die Aufständischen auf den Straßen begrüßten.

In der Rebellenhochburg Bengasi wurde die Berichte über die Festnahme der Söhne Gaddafis mit Jubel und Feuerwerken begrüßt. Auch aus anderen Städten Libyens gab es Berichte über Freudenfeiern.

Über den Verbleib von Gaddafi verlautete zunächst nichts Verlässliches. Nach Angaben aus Diplomatenkreisen soll er sich weiter in Tripolis aufhalten, wahrscheinlich in der Residenz Bab el Asisija. Das Anwesen war seit März mehrfach Ziel von Nato-Luftangriffen, fast alle Gebäude wurden dabei zerstört. Allerdings soll Gaddafi auf dem Gelände über ein Bunkersystem verfügen.

Es gab allerdings auch Gerüchte, der Machthaber sei aus der Hauptstadt geflüchtet und unterwegs in Richtung Tunesien oder Algerien - in einer Ansprache, die vom Staatsfernsehen übertragen wurde, hatte er sich noch am Sonntagabend an sein Volk gewandt und gefordert, Tripolis "bis zum letzten Blutstropfen" verteidigen. Er sprach in einer vom Fernsehen ausgestrahlten Audiobotschaft zu den Menschen, zu sehen war er nicht. Al Dschasira zufolge versicherte Gaddafi, er sei noch in Tripolis, und seine Truppen würden niemals aufgeben. "Wir werden den Sieg erringen", rief er und beschwor seine Anhänger, von überall her in die Hauptstadt zu kommen.

Am späten Abend, nachdem die Rebellen bis nach Tripolis vorgestoßen waren, meldete sich Gaddafi erneut zu Wort: "Ihr müsst auf die Straße gehen, um die Ratten und Verräter zu bekämpfen. Alle Stämme müssen nach Tripolis marschieren, um es zu beschützen. Wenn nicht, werdet Ihr Sklaven der Kolonialisten werden." Plötzlich stoppte seine Stimme. Für die Unterbrechung der Nachricht gab es keine Erklärung. Unklar blieb auch, von wo aus Gaddafi gesprochen hatte.

Das Regime bot zuletzt Verhandlungen an. Machthaber Muammar al-Gaddafi sei bereit, direkt mit Übergangsratschef el-Dschalil zu verhandeln, sagte ein Regierungssprecher am Sonntagabend. Die Rebellen lehnten das Verhandlungsangebot allerdings ab - sie würden ihre Offensive erst beenden, wenn Gaddafi seinen Rücktritt erklärt habe, sagte el-Dschalil dem Sender al-Arabija. Sollten sich Gaddafi und seine Söhne ergeben, würden die Aufständischen ihnen sicheres Geleit ins Ausland garantieren

Den Rebellen zufolge hat sich mittlerweile auch Gaddafis Ministerpräsident Al Baghdadi Al Mahmudi möglicherweise von dem Regime losgesagt. Der Regierungschef halte sich in einem Hotel in Tunesien auf, sagte ein Rebellensprecher in London.

Nato: Zeit für neues Libyen gekommen

Dass Gaddafis Regime vor dem Kollaps ist, sieht auch die Nato so. Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen sagte am frühen Montagmorgen in Brüssel, die Zeit sei gekommen, ein neues, demokratisches Libyen zu schaffen. Die Nato werde Gaddafis Truppen beobachten und bombardieren, falls die Zivilbevölkerung durch sie bedroht sei. Je eher Gaddafi erkenne, "dass er den Kampf gegen sein eigenes Volk nicht gewinnen kann, desto besser". Die Menschen hätten nach dem Leid während Gaddafis mehr als vier Jahrzehnte dauernder Herrschaft jetzt "eine Chance auf einen Neuanfang". Das Militärbündnis hat in den vergangenen fünf Monaten fast 20.000 Einsätze in Libyen geflogen, darunter etwa 7500 Angriffe gegen die Regierungstruppen.

Auch US-Präsident Barack Obama sieht Libyen vor dem Wendepunkt. Tripolis entgleite dem "Griff eines Tyrannen", das Regime zeige Anzeichen des Zusammenbruchs, erklärte Obama in Washington. Der sicherste Weg, um das Blutvergießen zu beenden, sei einfach: "Muammar al-Gaddafi und sein Regime müssen erkennen, dass ihre Herrschaft zu einem Ende gekommen ist." Gaddafi müsse einsehen, dass er Libyen nicht länger kontrolliere. "Er muss ein für alle Mal die Macht aufgeben." In dieser historischen Zeit müsse der nationale Übergangsrat der Rebellen die notwendige Führungsstärke zeigen, um das Land durch die Phase des Übergangs zu steuern. Obama erklärte weiter: "Wir werden weiterhin mit unseren Alliierten und Partnern in der internationalen Gemeinschaft zusammenarbeiten, um das libysche Volk zu beschützen und einen friedlichen Übergang zur Demokratie zu unterstützen."

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