Zivilschutz:"Aktuell nicht mehr funktionsfähig"

Zivilschutz: Längst vergangene Zeiten: Stahltür im Luftschutzbunker aus dem Zweiten Weltkrieg an der Münchner Blumenstraße im Jahr 2013.

Längst vergangene Zeiten: Stahltür im Luftschutzbunker aus dem Zweiten Weltkrieg an der Münchner Blumenstraße im Jahr 2013.

(Foto: Catherina Hess)

Tausende Schutzräume wurden in Deutschland nach dem Kalten Krieg stillgelegt. Es gibt keinen einzigen öffentlichen Bunker. Wegen Russlands Invasion deutet sich jetzt ein Umdenken an. Die Regierung stellt den Bunker-Rückbau auf den Prüfstand.

Von Markus Balser und Johann Osel, Berlin/München

Eisenpritschen vor Betonwänden, eine Trockentoilette hinter einem blauen Plastikvorhang, ein leicht zerfledderter Globus, mit dem man wohl studieren wollte, wessen Militär gerade angreift: Es war eine spartanische Szenerie, die sich Reportern vor gut zehn Jahren in Geretsried bot, 45 Autominuten südlich von München. Da wurde der lange geheime Ort bekannt, an dem einst die Staatsregierung unter Ministerpräsidenten wie Franz Josef Strauß einen sowjetischen Atomangriff überleben sollte.

In der bayerischen Idylle unweit des Starnberger Sees war der unterirdische Ausweichsitz des Kabinetts zunächst nur ein Provisorium. Er war hermetisch abgeriegelt und mit Luftfilteranlagen versehen, etwa 200 Menschen sollten hier überleben können. Ein professionellerer Bunker sollte folgen. Doch die historische Entwicklung überholte die Pläne. Schon 1992, kurz nach Ende des Kalten Krieges, ging der Bunker außer Betrieb. Heute liegt da ein Stück Geschichte unterhalb einer staatlichen Feuerwehrschule.

"Veränderte Bedrohungsszenarien"

Der eingemottete Bunker in Geretsried steht für die Lage im ganzen Land. Viele Deutsche fragen sich angesichts des Kriegs in der Ukraine, wo die Bevölkerung hierzulande eigentlich im Ernstfall Schutz finden würde. Doch die Antwort fällt ernüchternd aus. "In Deutschland stehen keine öffentlichen Schutzräume mehr zur Verfügung", teilt die für die Bauten zuständige Bundesanstalt für Immobilienaufgaben in Bonn mit. Es ist das Ergebnis eines radikalen Umdenkens vor 15 Jahren. Mit Verweis auf "veränderte Bedrohungsszenarien" hatte das Bundesinnenministerium schon 2007 unter dem damaligen Minister Wolfgang Schäuble (CDU) die Aufgabe der 2000 Bunker und Schutzräume in den westdeutschen Bundesländern beschlossen. Der Unterhalt kostete jährlich schließlich etwa zwei Millionen Euro.

Nun aber deutet sich eine Wende an. Putins jüngste Auftritte bringen auch beim Zivilschutz in der Bundesregierung einiges in Bewegung. "Die Bundesregierung hat die in den Medien ausgestrahlten Äußerungen des russischen Präsidenten hinsichtlich einer Versetzung der russischen ,Abschreckungskräfte' in einen gesonderten Alarmierungszustand zur Kenntnis genommen", sagte ein Sprecher des Innenministeriums von Nancy Faeser (SPD) der Süddeutschen Zeitung. Wie der Nato-Generalsekretär halte man dies für "unverantwortlich" und beobachte die Entwicklung. "In diesem Kontext wird auch das aktuelle Rückbaukonzept für Schutzräume geprüft", sagte der Sprecher weiter. "Als ersten Schritt wird der Bund gemeinsam mit den Ländern zeitnah eine vollständige Bestandsaufnahme der vorhandenen Schutzräume von Bund und Ländern vornehmen."

1400 Schutzräume wurden "rückabgewickelt"

Doch das Programm zur Aufgabe der Bunker ist schon weit fortgeschritten. Von den Anlagen seien in Westdeutschland bislang 1400 "rückabgewickelt" worden, erklärt die Bundesanstalt. Das heißt, sie werden inzwischen anderweitig oder gar nicht mehr genutzt. Die im Ostteil Deutschlands bestehenden Schutzräume seien nach der Wiedervereinigung gar nicht erst in das Schutzraumkonzept des Bundes übernommen worden. Noch vorhanden und reaktivierbar wären rund 600 Schutzräume, darunter auch große in U-Bahnhöfen oder Tiefgaragen.

Zivilschutz: Alltag in der zweiten Hälfte der Zweiten Weltkriegs: Einwohner Berlins 1943 während eines Luftangriffs in einem öffentlichen Luftschutzbunker.

Alltag in der zweiten Hälfte der Zweiten Weltkriegs: Einwohner Berlins 1943 während eines Luftangriffs in einem öffentlichen Luftschutzbunker.

(Foto: Scherl/Süddeutsche Zeitung Photo)

Eine Wende bei der Nutzung von Bunkern könnte auch nur der Anfang sein. "Vor dem Hintergrund des völkerrechtswidrigen russischen Überfalls auf die Ukraine verstärkt die Bundesregierung ihre Fähigkeiten zum Schutz ihrer Bevölkerung und Alliierten", kündigt der Sprecher des Innenministeriums weiter an. "Auch im Zivilschutz müssen wir uns den aktuellen Herausforderungen stellen und unsere Fähigkeiten stärken." Aktuelle "Vorkehrungen und Maßnahmen" müssten "überprüft und die Fachbehörden wie das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) und die Bundesanstalt Technisches Hilfswerk (THW) für diese Aufgaben wieder deutlich gestärkt werden".

Zur Wahrheit gehört allerdings auch: Selbst die große Zahl der Bunker hätte früher nur einem kleinen Teil der Deutschen im Ernstfall Schutz geboten. Beispiel Bayern: Noch kurz vor der Wende rechnete die damalige Regierung vor, dass in allen gut 1500 bayerischen Bunkern insgesamt 205 000 Menschen untergebracht werden könnten. Bayern aber hatte damals schon gut elf Millionen Einwohner. Selbst in Hamburg, damals mit einer der höchsten Bunkerdichten ausgestattet, hätten in 78 Bunkern nur etwa 80 000 von 1,7 Millionen Hanseaten Platz gefunden.

Ad-hoc-Paket in Niedersachsen

Wie sicher sich das Land nach Ende des Kalten Krieges fühlte, zeigt eine 70-seitige "Konzeption zivile Verteidigung" aus dem Jahr 2016. Die letzte "ressortübergreifende Neukonzeption der Zivilen Verteidigung erfolgte im Jahr 1995 und war von der sicherheitspolitischen Entspannung nach Beendigung des Kalten Krieges geprägt", heißt es darin. "Bundeseigene Strukturen und Einrichtungen der Zivilen Verteidigung wurden vielfach abgebaut."

Auch in den Ländern und bei Bundestagsabgeordneten sieht man die Notwendigkeit umzusteuern. "Die Sicherheitslage hat sich innerhalb weniger Tage dramatisch verändert", warnt Niedersachsens Innenminister Boris Pistorius (SPD). In Niedersachsen will er in Kürze ein "Ad-hoc-Paket" vorschlagen. "Investitionen in die militärische Verteidigung müssen eine Entsprechung im Zivilschutz finden, der massiv gestärkt werden muss", fordern auch die Grünen-Bundestagsabgeordneten Irene Mihalic und Leon Eckert.

Dabei geht es nicht nur um Schutzräume. Dass Deutschland generell nicht gut auf Krisen vorbereitet ist, haben die vergangenen zwei Jahre bewiesen. Zuerst ging der bundesweite Warntag schief, bei dem Sirenen getestet werden sollten. Dann fehlten zu Beginn der Pandemie medizinische Masken und Schutzanzüge. Schließlich gingen im Juli Flutwarnungen internationaler Forscher für deutsche Regionen ins Leere. Von mehr Sirenen, Notstromaggregaten, Notunterkünften, Sanitätszügen oder auch Ersatzkommunikation wie Satellitentelefonen spricht Pistorius nun. Das Land müsse auch seine Reaktionsfähigkeit auf feindliche Cyberangriffe oder Brennstoffmangel stärken.

Kaum Zeit zum Reagieren im Ernstfall

Ob es wirklich sinnvoll wäre, Bunker zu reaktivieren, ist allerdings durchaus umstritten. Die aktuelle Militärtechnik verkürzt die Vorwarnzeiten beim Einsatz von Waffen auf wenige Minuten. Die damalige Kriegsgefahr habe noch mehrere Eskalationsstufen mit der "notwendigen Vorbereitungszeit der Schutzräume" gekannt, teilt die Bundesanstalt für Immobilienaufgaben mit. Die aber gebe es angesichts der "heute anzunehmenden Bedrohungslagen nicht mehr".

Auch der ehemalige Regierungsbunker im Ahrtal zeigt, dass sich die Ziele, Sicherheit zu schaffen, dauerhaft nur schwer erfüllen lassen. Dabei war die Anlage mit rund fünf Milliarden D-Mark das teuerste Bauprojekt der alten Bundesrepublik und der größte Bunker aller Nato-Staaten. Doch als die vielen Hundert in den Berg gebohrten Räume 1972 fertig waren, hätten sie einem Angriff mit den damals modernsten Atombomben gar nicht mehr widerstehen können.

Es gebe derzeit keine Überlegungen für eine Reaktivierung von Bunkern, sagt ein Sprecher des bayerischen Innenministeriums. Zwar verfüge man sicherlich noch über einige Schutzräume oder Hilfskrankenhäuser, die theoretisch mit einigem Aufwand reaktiviert werden könnten. Der weitaus größte Teil der öffentlichen Schutzräume dürfte demnach "aktuell nicht mehr funktionsfähig" sein.

Zivilschutz: Kaum ein Kind kennt dieses Ding auf dem Dach noch: Sirenen gibt nur noch selten in Deutschland.

Kaum ein Kind kennt dieses Ding auf dem Dach noch: Sirenen gibt nur noch selten in Deutschland.

(Foto: Jens Büttner/dpa)

Ein besseres Sirenen-Netz, glaubt man in Bayern, könnte wenigstens bei der frühen Warnung helfen, zumal digitale Techniken sich noch nicht als krisenresistent erweisen. Bis in die Neunzigerjahre hatte es deutschlandweit noch ein flächendeckendes Netz gegeben, doch auch das wurde nach Ende des Kalten Krieges dezimiert. Im Juli kündigte Bayerns Innenminister Herrmann (CSU) nach der Flutkatastrophe an, Bayern werde die Zahl der Sirenen im Land wieder verdoppeln. Seitdem hat sich kaum etwas getan, von größeren Aufbauten im Land kann das Ministerium bisher nicht berichten, "wir rechnen mit einem mehrjährigen Prozess". Bis zu 200 Millionen Euro koste die flächendeckende Ausstattung in Bayern, hier sei der Bund in der Pflicht.

Lebensmittellager auffüllen, fordert der Minister

Auch um den Ausbau der Notfallreserve - an 150 geheimen Orten gelagerte Nahrungsmittel-Notrationen von Weizen, Roggen, Hafer, Reis, Erbsen, Linsen und Kondensmilch - beginnen Diskussionen. Die Vorräte sind nach Angaben des zuständigen Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung dafür gedacht, kurzfristige Lebensmittel-Engpässe zu lindern. Je nach der Zahl der Versorgten reichten sie "zwischen wenigen Tagen bis hin zu mehreren Wochen". Bayerns Wirtschaftsminister Hubert Aiwanger (Freie Wähler) forderte erst vorige Woche nach einer Kabinettssitzung mit Schwerpunkt Ukraine: "Die EU und der Bund müssen jetzt die Lebensmittellager bis unter die Decke füllen."

In Geretsried wird der alte Schutzraum immer wieder als Lager zum Beispiel für Akten genutzt. Ein Teil des historischen Inventars stehe noch dort, heißt es bei der Feuerwehrschule, manches ging an Museen. Wo aber Markus Söder im Kriegsfall Unterschlupf fände? Solch ein provisorischer Regierungssitz, heißt es im Innenministerium in München auf Nachfrage, sei heute "nicht mehr vorgesehen".

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