Krieg in der Ukraine:Überleben im Rebellengebiet

Railroad Hub Town Debaltseve Under Control Of Russian Separatist In Eastern Ukraine

Eine Woche nach dem Rückzug des ukrainischen Staates: Frauen in Debalzewe mit Essen, das die prorussischen Rebellen verteilt haben.

(Foto: Andrew Burton/Getty Images)

Die Schlacht um Debalzewe ist geschlagen, im Donbass herrschen prorussische Rebellen. Für die Menschen heißt das: Hunderttausende haben keinerlei Einkünfte, Banken sind geschlossen, Familien zerrissen durch eine Grenze, die offiziell doch gar nicht existiert.

Von Florian Hassel, Debalzewe

Es schien eine glänzende Idee zu sein, als Beamte des ukrainischen Innenministeriums Galina Bogotschowa und ihrem Mann Eduard Moisejew vorschlugen, ihre Tochter Alina wegzugeben. Die Front im Ukrainekrieg rückte näher in diesen Januartagen 2015. Schon wurde auch das 27 000-Einwohner-Städtchen Debalzewe von Granaten der Separatisten getroffen. Ein paar Wochen in einem Ferienheim, Hunderte Kilometer vom Kriegsgebiet entfernt, wären für die 13-Jährige das Beste, warben die Beamten.

Die Eltern stimmten zu. So fuhr Alina am 5. Januar mit anderen Kindern aus Debalzewe per Bus in ein sonst als Sanatorium dienendes Ferienheim, das Haus "Saljonij Liman" im Dorf Nowotroizkoje, 120 Kilometer südöstlich von Dnipropetrowsk. Drei Wochen später, so dachten die Eltern, würde ihr Kind zurück sein. Doch zwei Monate später warten sie noch immer.

Im Januar verstärkten Separatisten und Russen ihre Offensive gegen die ukrainische Armee. Ein paar Tage, bevor die Kinder am 25. Januar nach Debalzewe zurückkehren sollten, nahmen die Separatisten das Städtchen unter Artilleriefeuer.

Die ukrainischen Behörden verschoben die Rückkehr der Kinder aus dem Ferienheim. Die hörten manchmal tagelang nichts von ihren Eltern - wenn diese vor den Bomben in ihre Keller flohen oder der Mobilfunk zusammengebrochen war.

"Auf dem Höhepunkt der Bombardierungen hatten wir eine Woche keinen Kontakt", erzählt Olga Stupitsch, deren zwölf Jahre alte Tochter Sneschena ebenfalls ins Ferienheim fuhr. "Als ich endlich aus dem Keller kam und sie anrufen konnte, weinte sie und rief immer wieder: Mama! Du lebst!"

Unerklärte Grenze verursacht massive Probleme

Am 18. Februar floh die ukrainische Armee aus Debalzewe vor der Übermacht der Rebellen und russischen Panzerbataillone. Noch am selben Tag übernahmen die Rebellen die Herrschaft. Zwar schweigen seitdem die Waffen. Doch die Kinder können immer noch nicht aus dem Ferienheim (dem Sanatorium) zu ihren Eltern zurück.

Swetlana Schanowalowa hat gleich drei Kinder ins Ferienheim geschickt, doch als sie vor ein paar Tagen im Sanatorium anruft, um zu erfahren, wann die Kinder zurückkehren, bekommt sie zur Antwort: "Ihr seid jetzt Rebellengebiet. Niemand wird losfahren, um die Kinder zurückzubringen. Sie müssen schon selbst kommen und sie abholen." Daran aber scheitern die Eltern.

Die unerklärte Grenze zwischen dem Gebiet unter Kontrolle Kiews und der von den Separatisten beherrschten "Volksrepublik Donezk" und der "Volksrepublik Luhansk" wird von Dutzenden Straßensperren und Kontrollpunkten der Separatisten einerseits und der ukrainischen Armee andererseits gesäumt.

Mitte Januar befahl Kiew zudem, dass nur, wer einen neu eingeführten Passierschein vorweisen kann, die Grenze passieren darf. Eine Bestimmung, die das Leben für die Menschen unter der Rebellenherrschaft dramatisch erschwert hat.

Ausgestellt werden Passierscheine nur auf Gebiet unter Kontrolle Kiews. Im Fall der Eltern von Debalzewe etwa sind die Behörden im Städtchen Artjemowsk zuständig, knapp 120 Kilometer entfernt. Der direkte Weg ist versperrt - er endet direkt an der Front.

Deshalb führt der Weg nach Artjomowsk aus Debalzewe mit dem Bus in die Nachbarstadt Jenakijewo und von dort aus mit dem nächsten Bus weiter, für umgerechnet 2,75 Euro. Lächerlich wenig Geld für drei, vier Stunden Busfahrt - wenn man Geld hat. Enorm viel Geld für den, der seit Wochen oder Monaten auf Gehalt oder Rente wartet - wie fast alle Menschen in den Rebellengebieten.

Banken geschlossen, Geldautomaten funktionieren nicht

Die Eltern von Alina erhielten ihre Gehälter zuletzt für Dezember 2014. Zudem wäre den Eltern von Debalzewe auch dann nicht geholfen, wäre ihr Portemonnaie prall gefüllt. Wer noch keinen Passierschein hat, muss eine Passkopie und einen Antrag mit einer Begründung, warum er einen Passierschein haben will, an der ersten vom ukrainischen Militär kontrollierten Straßensperre abgeben. Dann heißt es warten. Tage. Wochen. Oder noch länger.

Führende Rebellen leben komfortabel

Oleg Selesnjow etwa macht sich aus der Rebellenhochburg Donezk auf den Weg zum knapp 40 Kilometer entfernten, vom ukrainischen Militär kontrollierten Kontrollpunkt Kurachowa. Der liegt auf einer Landstraße - winterschwere Felder, so weit das Auge reicht, hastig gegrabene Unterstände und mit Büschen getarnte Schützenpanzer, auf der Straße Betonblöcke und zwei Metallcontainer. Hier hat Selesnjow seinen Antrag auf einen Passagierschein abgegeben - er braucht ihn als Fahrer und um bei ukrainischen Banken Geld abzuheben.

Im Rebellengebiet haben alle ukrainischen und ausländischen Banken seit Monaten geschlossen, es funktioniert kein Geldautomat mehr. Zwar haben die Rebellen eine eigene Bank ins Leben gerufen - die aber dient bisher nur dazu, die Menschen zum Steuernzahlen an die Separatisten zu zwingen.

Führende Rebellen leben komfortabel: mit teuren Jeeps, Limousinen und häufigen Abstechern in Donezks noch geöffnete Hotelbars und Restaurants. "Die führenden Separatisten kontrollieren alle Wirtschaftszweige, die noch funktionieren - etwa den Benzinhandel", sagt ein Donezker Beobachter. Wer als Firmenchef kein Konto bei der Rebellenbank eröffnet, muss mit dem Besuch von Uniformierten mit Kalaschnikows rechnen.

Theoretisch sollen über die Filialen der Rebellenbank auch Gehälter, Kindergeld und Renten gezahlt werden. In der Praxis aber haben die Separatisten in diesem Jahr nur einmal umgerechnet 20 Euro "Hilfe" an Bedürftige ausgezahlt. "Leider hat die Republik noch kein Geld", sagt ein Bankmitarbeiter in Donezk. "Vielleicht ist Ende März Geld für Renten und Kindergeld da."

Lange überlebten Beamte, Kindergeldempfänger oder Rentner, indem sie oder Verwandte mit ihren Bankkarten Geld außerhalb des Rebellengebietes abhoben. Dann verschärfte die Regierung die Bestimmungen. Oleg Selesnjow etwa fuhr bis zur Einführung der Passierscheine zum ersten Städtchen unter ukrainischer Kontrolle, um die Rente für seine Mutter Lidia abzuheben. Dabei hat Lidia Selesnjowa Glück im Unglück.

Niemanden trifft der Krieg härter als alte Menschen und Behinderte - vor allem die ohne Angehörige. Den Vereinten Nationen zufolge haben mehr als 600 000 Rentner und Invaliden im Rebellengebiet keinerlei Einkünfte mehr und kämpfen ums Überleben.

Um weiter die Rente für seine Mutter abzuheben, braucht Oleg Selesnjow nicht nur den neuen Passierschein; seine Mutter soll auch nachweisen, dass sie nicht mehr auf Rebellen-, sondern auf Regierungsgebiet lebt.

Hunderte Anträge allein in zwei Tagen

Normalbürgern bleibt im ausblutenden Rebellenreich nur die Hoffnung, dass die Regierung in Kiew dem am 9. Februar gefällten Urteil des Kiewer Bezirksgerichts folgt, das einen Regierungsbeschluss vom November 2014, in den Rebellengebieten keine Renten und kein Kindergeld mehr zu zahlen, für illegal erklärte.

Wäre Selesnjows Antrag genehmigt, dürfte er ins weitere 50 Kilometer entfernte Örtchen Nowosjolowka fahren und seinen Passagierschein abholen. Am Kontrollpunkt Kurachowa bittet ein Soldat in einen Container.

Ein Tisch, zwei Stühle - und auf dem Boden vier überquellende Kartons mit Hunderten, vielleicht Tausenden neuer Anträge auf Passierscheine allein aus den vergangenen zwei Tagen. Der Soldat klappt einen Laptop auf und gibt Selesnjows Daten ein. "Nein, leider, Ihr Antrag ist noch nicht bewilligt", sagt er.

"Wann wird er denn bearbeitet?", fragt Selesnjow. "Keine Ahnung", sagt der Soldat. Selesnjow hat den Schein am 4. Februar beantragt. Vor mehr als einem Monat.

Die Zeit drängt

Als Selesnjow zurück nach Donezk fährt, kommt er an mehr als 50 wartenden Lkws vorbei. Auch ihre Fahrer brauchen nun Passierscheine - einen für sich, einen für den Lastwagen, und die richtigen Papiere für das ukrainische Finanzamt, das sich ebenfalls in Containern an den Straßensperren postiert hat, um die sonst außerhalb seiner Kontrolle stehenden Firmen abzukassieren.

"Ich warte schon seit 30 Stunden", sagt der Fahrer des vordersten Lastwagens, der Sonnenblumenkerne geladen hat. "Zum Glück habe ich Zeit."

Die haben die Eltern von Dabelzewe nicht. Vor wenigen Tagen haben die Kinder aus dem Sanatorium ihre Eltern aufgeregt angerufen. "Mama, wenn ihr uns bis zum 16. März nicht abgeholt hat, sollen wir in Internate gebracht werden", hat Alina ihrer Mutter gesagt.

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