Süddeutsche Zeitung

Krieg in der Ukraine:Separatisten nehmen neue Ziele ins Visier

  • Nach der tödlichen Attacke auf die Industriestadt Mariupol ist in der Ukraine Panik ausgebrochen.
  • Die ukrainische Armee steht weit mehr unter Druck, als ihre Generäle zugeben. Der Nationale Sicherheitsrat ist am Sonntag zu einer Notsitzung zusammengetroffen.
  • Mariupol ist für Moskau vor allem wegen der Versorgung der Krim auf dem Landweg von immenser Bedeutung.

Von Cathrin Kahlweit

In der Ukraine ist, man kann es nicht anders sagen, nach dem Beschuss von Mariupol Panik ausgebrochen. Denn die Hafenstadt am Asowschen Meer ist beileibe nicht der einzige Ort in der Ostukraine, der derzeit von vorrückenden prorussischen Truppen belagert wird. Im Nachbarbezirk Dnjepropetrowsk wurde der Alarmzustand ausgerufen. Die Stadt Debalzewo im Nordwesten des Donbass, durch die eine strategisch wichtige Bahnlinie führt, steht kurz vor der Aufgabe durch die ukrainische Armee.

Der monatelang umkämpfte Flughafen von Donezk war schon vor einigen Tagen aufgegeben worden. Über die Stadt Stschastje in jenem Teil des Bezirks Luhansk, der noch unter ukrainischer Verwaltung steht, hat Gouverneur Gennadij Moksal gesagt: "Stschastje erfriert." Es gebe nach den massiven Angriffen auf die Industriestadt keine Heizung mehr, keinen Strom, keine Lebensgrundlage - bei bis zu minus 30 Grad in den Nächten.

Die ukrainische Armee steht weit mehr unter Druck, als ihre Generäle zugeben. Der Nationale Sicherheitsrat wurde am Sonntag zu einer Notsitzung zusammengerufen; gleichzeitig ist aus dem Gremium zu hören, dass die Armee Rückschläge schönrede und die Zahl ihrer Gefallenen nach unten korrigiere.

Die Regierung hat Staatstrauer ausgerufen

In der westlichen Ukraine gab es nach der tödlichen Attacke auf Mariupol Trauermärsche, auf dem Maidan in Kiew versammelten sich Hunderte und stellten Kerzen auf. Die Regierung rief Staatstrauer aus. Doch während sich immer mehr Freiwillige in den Rekrutierungsbüros melden, nimmt gleichzeitig der Glaube daran ab, dass die Ukraine den Vormarsch der Rebellen stoppen kann. In einer Erklärung zum "Terrorangriff auf Mariupol" beteuerte Präsident Petro Poroschenko zwar, die Ukraine werde ihr Heimatland verteidigen bis zum endgültigen Sieg. Doch er findet immer weniger Gehör.

Bis vor wenigen Tagen noch hätte man durch weite Teile der Ukraine reisen und den Eindruck haben können: Der Krieg ist weit weg. Im Osten wird zwar seit Monaten gekämpft und gestorben, und die Spendenbereitschaft der Bevölkerung für die unterversorgte und unterfinanzierte Armee war und ist groß. Aber der Krieg, so schien es, blieb auf den Osten begrenzt. Nun aber schwinden letzte Sicherheiten. Der Konflikt rückt weiter ins Kernland vor - und damit näher an die meisten Ukrainer heran.

Mariupol war vor Monaten schon einmal umkämpft gewesen; die prorussischen Rebellen hatten das nahe der russischen Grenze gelegene Dorf Nowoasowsk angegriffen. Ein Vormarsch entlang der Schwarzmeer-Küste war aber gescheitert. Die Industriestadt Mariupol, Teil des Separatistentraums von "Neurussland", ist für Moskau vor allem wegen der Versorgung der Krim auf dem Landweg von immenser Bedeutung. Derzeit müssen Waren vom russischen Festland auf die Halbinsel mit Flugzeugen oder Fähren transportiert werden; einen Landzugang gibt es nur über ukrainisches Gebiet. In Kiew fürchtet man nun, die Landbrücke zur Krim könnte das nächste strategische Ziel der prorussischen und russischen Soldaten sein.

Die Sorge gibt es schon länger. In Mariupol geht man aber nach wie vor davon aus, dagegen gerüstet zu sein. Seit dem vergangenen Sommer waren Schützengräben ausgehoben und Abwehrwälle gebaut worden. Die Freiwilligen-Bataillone Asow und Dnjepr stehen nördlich der Stadt, auch die ukrainische Armee hat hier Stellungen bezogen. Ein Sprecher der "Anti-Terror-Operation", wie die Militäroperation in der Ukraine immer noch heißt, brüllte am Sonntag ins Telefon, die Nacht sei "ruhig", die Lage "stabil" geblieben. Man habe alles im Griff, die Separatisten hätten sich etwa 15 Kilometer vor der Stadt eingegraben. Am frühen Morgen eilten Freiwillige los, um die ersten Reparaturarbeiten an den zerbombten Häusern vorzunehmen, irgendjemand hat Glas gespendet, zersplitterte Fenster wurden ausgetauscht - eine Überlebensfrage bei der brutalen nächtlichen Kälte.

Der Generaldirektor des Asow-Stahlwerks, das dem Oligarchen Rinat Achmetow gehört, erklärt unterdessen sein Mitgefühl mit Mitarbeitern und ihren Familien, die bei der Attacke umgekommen seien. Er teilt mit, der Achmetow-Fonds werde die Opfer finanziell unterstützen.

Sich die großen Stahlwerke von Achmetows Metinvest-Konzern einzuverleiben - das könnte ein weiteres strategisches Ziel der Separatisten sein, wenn es für die große Lösung, die Landbrücke zur Krim, nicht reicht. Mariupol ist derzeit ein Herzstück der Produktion; zwei profitable Werke arbeiten hier. Aus Donezk, wo die Lage zunehmend unkontrollierbar wird, hatte Metinvest einen Teil des Managements in den Süden verlagert.

Die Einwohner Mariupols halten wenig von Kriegsrhetorik

Derzeit, sagt ein Manager am Telefon, der lieber ungenannt bleiben möchte, arbeiteten beide Werke am unteren Limit, weil die für die Stahlwerke lebenswichtige Kokserei in Awdejewka, zehn Kilometer nördlich von Donezk, ununterbrochen von prorussischen Milizen beschossen werde und kaum noch produzieren könne. Derzeit glaube zwar niemand so recht daran, dass die Separatisten stark genug seien, Mariupol zu überrennen, so der Metinvest-Mitarbeiter, "aber ich habe mich mit Vorhersagen in diesem Konflikt schon oft geirrt". Die Einwohner der Industriestadt jedenfalls, betont er, hielten zwar wenig von der Kriegsrhetorik aus Kiew und glaubten nicht an Präsident Poroschenko und seinen Patriotismus, "aber auch die größten Kiew-Hasser hier wollen auf keinen Fall Teil der Donezker Volksrepublik werden, so viel ist klar".

Tatsächlich steht der Präsident massiv unter Druck. Er habe die falschen Leute an zentralen Stellen im Militärapparat und im Verteidigungsministerium platziert, heißt es, diese würden die falschen Entscheidungen treffen. Indirekte Unterstützung bekam die Kiewer Führung jetzt allerdings ironischerweise von den Separatisten selbst. Während Moskau nach dem Beschuss wie gewohnt beteuerte, es gebe keinen Beweis dafür, dass Separatisten Wohngebiete beschossen hätten, korrigierte Rebellenführer Alexander Sachartschenko diese Behauptungen wenig später selbst. Vor jubelenden Zuhörern in Donezk, die "Hurra" und "Halleluja" riefen, gab er bekannt, der Angriff auf Mariupol habe begonnen. Man werde nun weiter auf andere Orte vorrücken, die noch von der ukrainischen Armee gehalten würden.

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SZ vom 26.01.2015/fie
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