Süddeutsche Zeitung

Krieg in der Ukraine:"Jede Armee hat einen Punkt, an dem es kippt"

Lesezeit: 2 Min.

Es kursieren sehr unterschiedliche Angaben über die Zahl der russischen Gefallenen im Krieg in der Ukraine. Der Militärhistoriker Sönke Neitzel erklärt, warum die Ermittlung von Toten so schwierig ist und welche Verluste besonders schmerzhaft sind.

Von Nicolas Freund, München

Der amerikanische Geheimdienst schätzt 15 000, der ukrainische Präsident Wolodimir Selenskij behauptet 40 000 und Moskau äußert sich zu dem Thema seit Monaten nicht mehr: Zur Zahl der gefallenen russischen Soldaten im Krieg in der Ukraine gibt es sehr unterschiedliche Angaben, und dieser lockere Umgang mit den Toten ist fast so erschreckend wie die Zahlen selbst. Warum gehen die Angaben über die in diesem Krieg Getöteten so weit auseinander?

Zumindest eine Erklärung ist politisch. "Gefallenenzahlen sind immer auch Propagandazahlen", erklärt der Militärhistoriker Sönke Neitzel von der Universität Potsdam. "Das ist eine ganz entscheidende Währung für Sieg oder Niederlage. Wenn sie zu hoch sind, heißt es, die bluten aus, wenn sie zu niedrig sind, heißt es, die halten sich ja noch ganz gut."

Es ist eine alte Weisheit: Mit der Wahrheit ist im Krieg meist wenig gewonnen. Lieber stellt man die feindlichen Verluste als sehr hoch dar und schweigt über die eigenen. In dieser Hinsicht sind sich sogar Moskau und Kiew einig.

Wer Soldat ist und wer Milizionär, wird vermutlich nicht genau erfasst

Im Westen kursieren aber noch andere Zahlen als die 15 000 des US-Geheimdienstes. Wenn von Verlusten gesprochen wird - also auch Verwundete, Gefangene, Deserteure und verschollene Soldaten dazukommen - wird die Spanne der angeblich verlorenen russischen Soldaten immer größer und spekulativer. Eine amerikanische Abgeordnete sprach zuletzt von 75 000 Verlusten auf russischer Seite. Kann das sein? Gerade bei so etwas Durchorganisiertem wie einer Armee sollte es doch möglich sein, relativ genau zu sagen, wie viele Soldaten es einmal waren und wie viele es noch sind.

"Die Russen wissen wahrscheinlich schon ungefähr, aber auch nicht ganz exakt, wie hoch ihre Verluste sind", meint Neitzel. "Denn die russische Armee setzt auch Rekruten aus dem Donbass und Söldner ein. Es wird vermutlich nicht so genau registriert, wer jetzt Soldat ist und wer Milizionär. Das ist bei der Ukraine übrigens ähnlich. Und wenn bei einem Raketenangriff ein Milizionär getötet wird, wer erfasst das dann?"

Es gibt zwar Organisationen wie die Vereinten Nationen, die Kriegsopfer dokumentieren. Die konzentrieren sich aber oft auf die Zivilbevölkerung und geben auch immer an: Mit Sicherheit festgehalten werden kann nur ein kleiner Teil der Getöteten. Die wirkliche Zahl ist aber immer deutlich höher. Wie machen das nun Geheimdienste, wenn sie Zahlen wie die 15 000 veröffentlichen?

Hochspezialisiertes Personal lässt sich nicht einfach ersetzen

"Man kann zum Beispiel die abgeschossenen Fahrzeuge zählen", erklärt Neitzel. "Wenn 600 Panzer mit je drei Mann Besatzung zerstört wurden, kann man von 1800 Gefallenen ausgehen. Im Donbass, wo die Kämpfe auf recht engem Raum stattfinden, kann man aktuell auch gut schätzen, wie viele Soldaten in eine Schlacht gezogen und wie viele wieder zurückgekommen sind. Dazu kommen abgefangene Meldungen über Verluste. Das Bild, das dabei entsteht, ist mit Sicherheit nicht komplett. Man kann davon ausgehend aber hochrechnen." 15 000 hält Neitzel für eine realistische Größe.

Angesichts dieser Zahlen bleibt aber die Frage, was 15 000 Gefallene für eine Armee wie die russische, die aus Millionen Soldaten und Reservisten besteht, überhaupt bedeuten. Ist das viel oder wenig? "Für das Jahr 2022 in Europa ist das eine beachtliche Zahl", findet Neitzel. "Die Frage ist aber auch: Wer ist gefallen? Die Russen haben Fallschirmjäger, Offiziere und Generäle verloren, das ist hochspezialisiertes Personal, das man nicht einfach ersetzen kann. Militärisch ist das wahrscheinlich noch durchzuhalten. Aber jede Armee hat einen Punkt, an dem es kippt."

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