Frieden, aber welcher? Diese Frage bewegt das Land und es passt irgendwie, dass zum Tag der Deutschen Einheit beide Lager in Berlin, nicht weit voneinander entfernt, demonstrieren. Wobei es, je nach Art des Friedens, auf eine neue Teilung hinauslaufen könnte, die der Ukraine. Irgendwie dazwischen befindet sich Ralf Stegner.
Der SPD-Politiker, der immer auch die Bedeutung von Diplomatie und Verhandlungen betont und sich dafür als Russland-Freund beschimpfen lassen muss, war Ende August selbst in der Ukraine. Er ist insbesondere dafür, die Luftverteidigung des von Russland angegriffenen Landes noch mehr zu unterstützen – denn die rette viele Menschenleben. Aber trotz innerparteilicher Kritik sitzt er am Donnerstag im Zug nach Berlin, um auf der Friedensdemonstration zu sprechen, bei der auch Sahra Wagenknecht reden wird – und die sich strikt gegen eine weitere Unterstützung der Ukraine wendet.
„Abführen“, fordert ein Demonstrant, als das Wort Angriffskrieg fällt
Der Aufruf der Demo „Nein zu Krieg und Hochrüstung“ steht in weiten Teilen quer zur Regierungspolitik von Kanzler Olaf Scholz (SPD). Keine Waffenlieferungen mehr an die Ukraine, Israel und in alle Welt werden gefordert, sowie „Atomwaffen raus aus Deutschland“ und keine Stationierung von US-Mittelstreckenwaffen in Deutschland. Und: Sofortige Friedensverhandlungen, egal wie.
Stegner betont beim Telefonat mit der Süddeutschen Zeitung auf der Zugfahrt nach Berlin, die hohen Stimmenzuwächse für AfD und das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) bei den Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg seien doch „ein deutlicher Hinweis, dass man denen diese Themen nicht überlassen darf“.
Aber als er die Bühne an der Siegessäule betritt, wird es schnell unangenehm für ihn, er biedert sich hier nicht an. Als er sagt: „Wir haben in der Ukraine einen russischen Angriffskrieg, der jeden Tag Tod und Zerstörung bringt“, wird er gnadenlos ausgebuht, Pfiffe. „Aufhören, Aufhören“, rufen viele, ein Demonstrant brüllt: „Abführen.“ Die Moderatorin muss eingreifen, bittet, sich gegenseitig zuzuhören, nicht auszubuhen. Das hilft wenig, auch Stegners Betonung der Notwendigkeit von Flugabwehrsystemen gegen russische Raketen wird niedergebuht. Als er am Ende sagt: „Die SPD war und ist Teil der Friedensbewegung“, gibt es noch mal tausendfaches Buhen.
Nazis, Antisemiten, Rassisten sind nicht geduldet, das reicht Stegner
Selbst der frühere CSU-Politiker Peter Gauweiler, der erstmals auf so einer Kundgebung spricht, hat es leichter. Er begrüßt seinen „alten Freund Oskar Lafontaine“, sagt mit Blick auf Waffenlieferungen, man könne einen Brand auch nicht mit Benzin löschen. Das bringt mehr Applaus als Differenzierung. Aber Stegner wie Gauweiler sind letztlich ohnehin nur das Vorprogramm für Wagenknecht, die jubiliert, die Bewegung werde immer größer. Alle würden den Irrsinn „dieser Kriegspolitik“ sehen. Explizit lobt sie, dass Stegner sich hierher getraut habe. Es brauche viel mehr Stimmen in der SPD, „die sich für einen anderen Weg aussprechen“; statt wie Scholz und Pistorius das zu tun, „was Washington ihnen sagt“.
Es sind viele linke Gruppen gekommen, der Platz rund um die Siegessäule ist trotz Regens rappelvoll, die Veranstalter sprechen von mehr als 40 000 Teilnehmern, die Polizei nennt keine genauen Zahlen. Anhänger des BSW, von Linkspartei, DKP und MLPD sind da, es sind auch viele Palästina-Fahnen zu sehen. „Kriegstüchtig? Ohne uns! Frieden mit Russland & China“ und „Diplomaten statt Granaten“ ist auf Plakaten zu lesen. „Es gibt dabei Schmerzgrenzen und für mich war die Schmerzgrenze, dass die Veranstalter erklärt haben, dass man da keine Nazis, keine Antisemiten, keine Rassisten duldet“, sagt Stegner zu seiner persönlichen Teilnahmebedingung.
Bei der anderen Demo heißt es: „Freiheit statt russischem Imperialismus“
Aber einiges gehe für ihn in die falsche Richtung, die Diplomatie, so kompliziert es gerade ist, kommt ihm zu kurz. Dass jenen, die neben der Ukraine-Hilfe auch Verhandlungen fordern, ein Paktieren mit Diktaturen vorgeworfen wird, sei eine Unterstellung, „die faktisch falsch ist“, betont er. Er leidet unter der Polarisierung auf beiden Seiten. Sehr kritisch sieht er auch die geplante Stationierung von US-Mittelstreckenraketen in Deutschland, zumindest da ist er näher bei vielen Demo-Teilnehmern. „Selbst beim Nato-Doppelbeschluss, gegen den ich damals war, gab es ein Verhandlungsangebot.“ Es gebe hier auch keine Lastenverteilung mehrerer Nato-Staaten, sondern nur eine Vereinbarung zwischen den USA und Deutschland, was die eigenen Risiken erhöhe. Und es werde verkannt, dass die Nato mit ihren Fähigkeiten zur Abschreckung bei see- und luftgestützten Raketen bereits heute den Russen überlegen sei. Es gebe sicher keinen Mangel an Waffen in der Welt. „Wir haben einen Mangel an Ressourcen zur Lösung der anderen drängenden Probleme: Armut, Umweltzerstörung, Bürgerkriege, Migrationsbewegungen.“
Nicht weit entfernt von der zentralen Kundgebung, im Spreeweg, demonstriert das andere Lager, sehr viel kleiner – hier ist Stegners Fraktionskollege, der SPD-Außenpolitiker Michael Roth dabei – er nennt sie die „one and only Friedensdemo“. „Wir gehen für einen gerechten Frieden in der Ukraine auf die Straße, für Freiheit statt russischem Imperialismus“, betont Roth. Er steht für die These, dass es einen gerechten Frieden nur mit mehr Waffen geben kann. Damit die Ukraine den russischen Angriffen standhalten und aus einer Position der Stärke über einen Frieden verhandeln kann – sonst drohe der Verlust großer Landesteile oder der ganzen Ukraine.
Dieser Tag zeigt wieder, der Aufstieg von AfD und BSW verändert spürbar den Diskurs. Sie haben ihren Friedensbegriff gesetzt und setzen so gerade die SPD unter Druck. Explizite Ukraine-Unterstützer wie Roth fühlen sich in der Bundestagsfraktion zunehmend isoliert. Und auch im Kanzleramt wird intensiv nach Wegen für eine Unterstützung von Friedensverhandlungen gesucht.
Dazu plant der Kanzler auch ein baldiges Telefonat mit Wladimir Putin, das erste seit fast zwei Jahren. Doch gibt es dort überhaupt eine Verhandlungsbereitschaft, zumal die Ukraine vor einem sehr schweren dritten Kriegswinter steht und Russland zuletzt strategische Erfolge erzielen konnte? Putin brüskiert Scholz öffentlich, indem er seinen Sprecher Dmitrij Peskow das Ansinnen eines Telefonats zurückweisen lässt. „Auf den ersten Blick gibt es keine gemeinsamen Themen, unsere Beziehungen wurden faktisch auf den Nullpunkt geführt, und nicht auf unsere Initiative hin“, so Peskow. Roth betont dazu, das seien „Liebesgrüße aus Moskau“ – an alle, die Verhandlungen statt Waffen für die Ukraine fordern.