Krieg:Explosives Patt

1248 zivile Opfer zählen die UN in Afghanistan allein im ersten Halbjahr 2019. Vor allem der Luftkrieg wird immer brutaler.

Von Joachim Käppner

Manche Soldaten der Afghanischen Nationalarmee (ANA) verlassen am Wochenende das Camp und kommen, ohne dass ihre Einheit davon wüsste, erst Wochen später zurück, weil sie in ihrem Heimatdorf bei der Ernte geholfen haben. Andere verschwinden mitten in einer Kampfoperation auf Nimmerwiedersehen. Auf der anderen Seite gibt es junge Polizeisoldatinnen, die sich über ihre Familien hinweggesetzt haben und beim Kampf gegen jene helfen wollen, die bis 2001 dafür verantwortlich waren, dass es für Frauen auf der Welt wenig schlimmere Plätze gab als Afghanistan. Oder die vom Staatsfernsehen gefeierten jungen Piloten, die mit A-29-Propellerflugzeugen, die aussehen wie aus dem Zweiten Weltkrieg, ANA-Truppen am Boden Luftunterstützung leisten.

Die Streitkräfte der afghanischen Regierung bieten ein höchst unterschiedliches Bild - in der Gesamtheit aber gewiss nicht das einer Macht, die ohne fremde Hilfe den Taliban gewachsen wäre. Den besten Ruf genießen die Spezialeinheiten der ANA. Beim Rest der Truppe sind die Verluste hoch, Bezahlung und Motivation vielerorts schlecht. Im Mai dieses Jahres fehlten der ANA, der Luftwaffe und der Militärpolizei genau 79 535 Soldaten, einer Untersuchung des Pentagon zufolge. Offiziell sollten die Streitkräfte des Landes 352 000 Köpfe stark sein - das bedeutet: Fast jeder vierte Soldat fehlt.

Angesichts dieser Bilanz ist es ein Teilerfolg, dass die Armee sich überhaupt gegen die Taliban, die hinzugestoßenen IS-Kämpfer und andere Terrorgruppen behauptet. Höchstens die Hälfte des Territoriums wird von Regierungskräften kontrolliert, mehr als ein Drittel ist umkämpft, der Rest gehört den Taliban, die in Pakistan sichere Rückzugsgebiete haben. In der südlichen Provinz Zabul gehören schon vier von elf Distrikten Taliban und al-Qaida, Ende Juli behaupteten die Islamisten, sie hätten einen weiteren Distrikt erobert.

Die Bundeswehr ist mit etwa 1250 Soldaten im Norden des Landes vertreten

Weit mehr Aufsehen als solche regionalen Machtverschiebungen erregen die Terroranschläge der Aufständischen: Im Sommer starben 20 Menschen bei einem Bombenanschlag auf den Sicherheitsberater des afghanischen Präsidenten. 34 weitere kamen um, als zwischen Herat und Kandahar ein Reisebus in die Luft gesprengt wurde. Markus Kaim von der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin (SWP) betrachtet die Lage "als militärisches Patt, an dem sich in den vergangenen Jahren nicht viel geändert hat", seit dem Abzug der Nato-Kampftruppen 2014 nämlich. Die Terrorakte werden von Bundeswehroffizieren der von den UN gebilligten Ausbildungsmission Resolute Support (RS) mitunter als Symptom militärischer Schwäche der Aufständischen gedeutet, die offenbar nicht mehr imstande zu Großoffensiven seien. Kaim sieht das anders: "Die Attentate sind vor allem ein politisches Signal an die gewählte Regierung und jeden, der zu ihr steht: Wir sind da, ihr könnt uns nicht besiegen, wir können überall zuschlagen" - ob in Bergdörfern oder einem Hochsicherheitsbereich der Hauptstadt Kabul.

Mit 1250 Soldaten ist die Bundeswehr noch im Norden des Landes vertreten. Wie effizient die Mission ist, darüber gehen die Meinungen auseinander. Im Wesentlichen hängt das von den afghanischen Partnern ab - sind sie motiviert und professionell, tauschen sie sich intensiv mit den deutschen Offizieren aus. Andere, die eher aufgrund von Vetternwirtschaft ein Kommando führen, erwiesen sich als beratungsresistent. Da die Deutschen nicht mit ins Gefechtsfeld gehen dürfen, gibt es auch keine direkte Beratung bei Kampfoperationen.

Wesentlich bedeutsamer ist naturgemäß der Beitrag der USA, die noch 14 000 Soldaten im Lande haben, vor allem durch Spezialeinheiten und Einsätze der Luftwaffe. So sehr die ANA von US-Kampfjets und Apache-Helikoptern abhängig ist, so sehr zeigte sich zuletzt eine Brutalisierung des Luftkrieges. Unter der Trump-Administration hat sich seit 2017 die Zahl der Attacken fast verdoppelt, im ersten Halbjahr 2019 stieg die Zahl ziviler Bombenopfer im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um 39 Prozent, wie die Unama errechnete, die UN-Mission in Afghanistan. "Die Beschränkungen für Luftangriffe wurden deutlich gelockert", sagt auch SWP-Experte Kaim, "der Zusammenhang zu den höheren Opferzahlen ist offensichtlich." Der Krieg ist mörderisch. Nach UN-Angaben sind die ANA und US-Einheiten im ersten Halbjahr für 717 getötete Zivilisten verantwortlich, die radikalen Islamisten für 531.

Für Kaim ist die entscheidende Frage: "Was würde nach einem Truppenabzug der Amerikaner geschehen?" Einem Abzug, dem die Bündnispartner wie die Deutschen folgen müssten, denn mit den US-Truppen steht und fällt auch die RS-Mission. Denkbar wäre ein Fortbestehen des Patts, wahrscheinlicher ein Bürgerkrieg, der wie in den Neunzigerjahren mit einer Terrorherrschaft der Taliban enden könnte. Wer das verhindern will, der müsste, sagt Kaim, "die strategische Geduld aufbringen, die afghanische Regierung noch auf Jahrzehnte hinaus zu unterstützen".

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