Süddeutsche Zeitung

Kretschmann und Fischer:Wahrhaft historische Zeiten für die Grünen

Eine Podiumsdiskussion mit Winfried Kretschmann und Joschka Fischer wird zum Abend, der grüne Seelen wärmt. In einer Umfrage liegen die Grünen vier Prozentpunkte vor der CDU.

Von Josef Kelnberger, Karlsruhe

Sie wird immer noch ein bisschen unglaublicher, die Geschichte von Winfried Kretschmann und seinem Generalangriff auf die CDU. 32 Prozent für die Grünen meldete am Donnerstagabend der ARD-Deutschland-Trend, nur noch 28 Prozent für die Christdemokraten. Ein politisches Erdbeben scheint sich anzubahnen, zehn Tage vor der Landtagswahl in Baden-Württemberg.

Kretschmann saß an diesem Abend sehr behaglich auf einem grün ausstaffierten Podium in der Karlsruher Stadthalle. Ob er solchen Zahlen traue, fragte ihn der Moderator. "Ich glaube den Umfragen", antwortete Kretschmann, "so lange sie so gut sind."

Der Fall Beck wird mit keinem Wort erwähnt

Ihm gegenüber saß Joschka Fischer, den man bislang für den besten Wahlkämpfer der Grünen gehalten hatte, und wurde gefragt, ob er solche Umfragezahlen jemals für möglich gehalten habe, die Grünen in einem großen, reichen Bundesland vor der CDU. "Ganz ehrlich", erwiderte er, "nein."

Mehr als tausend Zuhörer saßen in der Halle, und man glaubte zu hören, wie sie durchatmeten. Tagsüber hatte die Drogenaffäre von Volker Beck wieder Zweifel gesät, und Winfried Kretschmann hatte sich im Fernsehen derart vehement von Beck distanziert, dass man seine Nervosität förmlich spüren konnte. Ob doch noch etwas schiefgeht auf den letzten Metern? Aber dieser Volker Beck, der Moralist, der Realpolitikern wie Fischer und Kretschmann immer schon auf die Nerven gegangen ist, wurde mit keinem Wort erwähnt an diesem Abend, der die grünen Seelen so wunderbar wärmte.

Fischer war immer einen Tick schneller unterwegs

Joschka und Winfried, der erste grüne Außenminister und der erste grüne Regierungschef, Seite an Seite im Wahlkampf, in Karlsruhe, wo sich die grüne Partei im Januar 1980 gegründet hat. Zwei Grauköpfe, beide 67 Jahre alt, beide in Schwaben geboren, wobei Fischer wichtig ist zu erwähnen, er sei des Hochdeutschen mächtig - eine Fähigkeit, die Kretschmann niemals für sich reklamieren würde.

Fischer ist immer ein wenig schneller unterwegs gewesen als Kretschmann, und so kam es, dass die beiden in den Achtzigern sich in Hessen als Chef und Hiwi begegneten. Fischer als erster grüner Minister, zuständig für Umwelt, Kretschmann als sein Ministerialrat für Grundsatzfragen. Aus dem damaligen Arbeitsverhältnis, das nur 16 Monate dauerte, ehe der Ministerialrat kündigte, macht Kretschmann kein großes Geheimnis.

Es sei "nicht frei von Spannungen" gewesen. Kretschmann wollte die großen Linien im Umweltschutz vorgeben, Fischer war froh, wenn er von Tag zu Tag politisch überlebte. Tschernobyl, die Müllverbrennung. "Ich bin ihm auf die Nerven gegangen", sagte Kretschmann auf dem Podium. Fischer schwieg, aber man weiß: Er konnte als Chef unausstehlich sein.

Nun gehören sie beide schon zu Lebzeiten zu den Legenden ihrer Partei, und so erklärten sie eine Stunde lang dem Publikum die Welt. Fischer von den lichten Höhen seiner außenpolitischen Erfahrung aus, Kretschmann geerdet in der Schwäbischen Alb. Sie trafen sich in Europa, dessen Zusammenhalt es in diesen Tagen der Flüchtlingskrise um jeden Preis zu bewahren gelte.

Und beide suchten die Nähe von Frau Merkel. Fischer machte sich ein wenig lustig darüber, dass Kretschmann für die Kanzlerin betet. Das würde ihm nie einfallen. Aber "Anerkennung" zollte er ihr doch für ihre Arbeit als Krisenmanagerin.

Zwei grüne Urgesteine, die eine CDU-Kanzlerin loben, und ein grünes Publikum, das dazu begeistert Beifall klatscht: Dies sind wahrhaft historische Zeiten.

AfD: Gefahr für die Demokratie

Die Leute verlangen in diesen Tagen offenbar nach Weltendeutung, nach dem Blick über die Landes- und Parteigrenzen hinweg. Auch deshalb kommt Kretschmann so gut an in diesem Wahlkampf, wenn er im Kampf gegen Ausländerfeindlichkeit und Nationalismus, im Kampf gegen die AfD, die er als Gefahr für die Demokratie und die Einheit Europas sieht, den Konsens der etablierten Parteien beschwört.

Auch dieses Konsenses willen, sagte Kretschmann in Karlsruhe, komme er der CDU in Fragen des Asylrechts so weit entgegen, dass es die eigene Partei schmerzt. So sehr, wie seinerzeit Fischer den Grünen weh tat, als er sie drängte, militärischen Interventionen zuzustimmen. Zwei Verräter an grünen Idealen? Solche Debatten sehen sie mit ihren 67 Jahren sehr gelassen.

Joschka Fischer konnte nach der Weltendeutung von Karlsruhe noch den Rest des Abends genießen, während Winfried Kretschmann einem weiteren Tag im Wahlkampf entgegen sah. Ob er die Wahl gewinnen, Ministerpräsident bleiben kann? Noch ist nichts entschieden. "In diesem irdischen Jammertal", sagte Joschka Fischer aus dem Schatz seiner gesammelten Lebensweisheit heraus, "kann immer alles schiefgehen."

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