Süddeutsche Zeitung

Kretschmann gegen Castor-Proteste:Grauer Weiser statt grüner Eiferer

Wenn am Sonntag die "grünen Busse" zu den Castor-Protesten ins Wendland fahren, wird Winfried Kretschmann wohl nicht dabei sein. Der baden-württembergische Ministerpräsident sieht im Widerstand gegen das Atommüllendlager Gorleben keinen Sinn mehr - und zieht damit den heiligen Zorn der Atomkraftgegner auf sich: Kretschmann mache den Trittin, schimpfen sie.

Roman Deininger, Stuttgart

Die beiden Termine waren leider nicht besser abzustimmen, was manche Grüne am Samstag in akute Entscheidungsnöte bringen könnte. In Kiel treffen sie sich zu ihrem Bundesparteitag, während gleichzeitig 200 Kilometer entfernt im Wendland die Großdemonstration gegen den letzten Castor-Transport mit radioaktiven Abfällen aus der französischen Wiederaufbereitungsanlage La Hague stattfindet.

Am Donnerstag sah es so aus, als würde der Zug noch einmal vor der deutschen Grenze zum Stehen kommen. In den nächsten Tagen soll der Konvoi mit elf Spezialbehältern aber den Salzstock Gorleben erreichen; die Anti-Atomkraftbewegung will ihm dort einen gebührenden Empfang bereiten.

Der Anlass hat Tradition, gerade für die Grünen, die einmal mehr zur Teilnahme an den Protestaktionen aufgerufen haben. Viele Mitglieder reisen in rund 40 "grünen Bussen" an, auf dem Demogelände gibt es einen "grünen Treffpunkt". Im vergangenen Jahr ließ sich Parteichefin Claudia Roth zur Sitzblockade nieder, sie trägt oft warme Skigarderobe bei so was.

Bei Parteifreund Winfried Kretschmann ist kaum anzunehmen, dass er sich demnächst auf Straße oder Gleise setzt. Der baden-württembergische Ministerpräsident hat sogar deutlich gemacht, dass er das im Fall Gorleben grundsätzlich für keine so gute Idee mehr hält. "Protest macht jetzt eigentlich keinen Sinn mehr", sagte er der Zeit. "Beschlossen ist: Deutschland steigt aus der Atomkraft aus." Nach dem besten Endlager für Atommüll werde ja nun ernsthaft und offen gesucht. "Deshalb muss man jetzt nicht nur protestieren, sondern auch zusehen, dass es gemacht wird."

Die Antwort der Bürgerinitiative, die vor Ort gegen das Endlager Gorleben kämpft, kam prompt, und zwar in Form der schlimmstmöglichen Grünen-Beschimpfung: "Kretschmann macht den Trittin." Die Grünen haben die Castor-Proteste immer gern zum symbolischen Nachweis genutzt, dass sie bei Konflikten zwischen Bürger und Staat auf Seiten der Bürger stehen. Trittin war diese Möglichkeit plötzlich verbaut, als er die Transporte als Bundesumweltminister genehmigen musste. Und nicht nur das: Wie nun Kretschmann rief damals auch er dazu auf, auf Proteste zu verzichten. "Verräter" nannten ihn die Castor-Gegner, zumindest jene, die einigermaßen höflich bleiben wollten.

Der Widerstand gegen die Kernkraft, pflegt Kretschmann, der graue Weise von der Schwäbischen Alb, zu sagen, sei so etwas wie eine "Zivilreligion" der Grünen. Wie in jeder Religion gibt es Gläubige und Eiferer - und mit den Eiferern irgendwann Probleme. Die hatte Trittin, als er den theoretisch simplen Atomausstieg praktisch ausgestalten musste: Irgendwo musste er ja hin mit dem strahlenden Müll.

Und derzeit hat Kretschmann ähnliche Probleme mit anderen Eiferern, in bunter Variation: Irgendwo muss er ja hin mit den Windrädern, die er für die Energiewende im Südwesten braucht, auch wenn das örtlichen Bürgerinitiativen nicht passt. Falls Kretschmann am Sonntag die Volksabstimmung über Stuttgart 21 verliert, will er sogar - zähneknirschend - das Baurecht der Bahn durchsetzen. Kretschmann ist des Verrats am Bürger unverdächtig; er scheint nur zu wissen, wann auch ein grüner Ministerpräsident besser auf der Seite des Staates steht.

Am Sonntag, wenn der Grünen-Parteitag vorbei ist, sollen übrigens Busse die geneigten Delegierten direkt ins Wendland bringen. Auch Claudia Roth, heißt es, sei wieder dabei.

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SZ vom 25.11.2011/sebi
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