Krawalle in Friedrichshain:Wie der Rechtsstaat auf Krawalle reagieren sollte

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Es ist gefährlich, wenn Autonome in Berlin eine rechtsfreie Zone für sich reklamieren. Doch der Staat darf auf gewalttätige Volldeppen nicht nur mit Polizeigewalt antworten.

Kommentar von Heribert Prantl

Den Rechtsstaat stellt man sich bisweilen vor als ein großes paragrafengetriebenes Räderwerk, in dem eine gut geölte Mechanik ohne Ansehen der Person leidenschaftslos ihren Dienst verrichtet. Aber so ist es nicht. Der Rechtsstaat ist kein Uhrwerk; er ist kein Mahlwerk und kein Schlagwerk; er ist auch kein Computer; er ist weder ein analoges noch ein digitales Projekt, sondern, glücklicherweise, ein menschliches.

Er besteht aus Menschen, die sich darin einig sind, dass ihr Staat Freiheit, Gerechtigkeit und Rechtssicherheit gewährleisten soll. Das ist der Grundsatz. Bei der Verwirklichung dieses Grundsatzes gibt es erstens Streit und zweitens Fehler. Der Streit gehört dazu, weil der Rechtsstaat ein sich selbst immer wieder korrigierendes System ist. Die Fehler gehören nicht dazu, aber sie passieren.

Wenn die Fehler krass sind - so wie in der Silvesternacht, als in deutschen Städten mehr als tausend Frauen Opfer von Gewalt wurden; oder wie jüngst in Berlin, als am Wochenende 123 Polizisten verletzt wurden -, wird der Rechtsstaat von vielen in Frage gestellt. Er sei, heißt es dann, zu lasch. Und es wird die Frage gestellt, ob man nicht mit weniger Rechtsstaat mehr Schutz bewirken könne.

Ausschreitungen in Friedrichshain
:123 verletzte Polizisten, 86 Festnahmen

Als "linke Gewaltorgie" bezeichnet Berlins Innensenator Henkel die jüngsten Ausschreitungen in der Rigaer Straße. An Gesprächen mit den Autonomen ist er weniger interessiert denn je.

Nicht den Rechtsstaat, sondern seine Fehler abstellen

Dem liegt ein falsches Verständnis von Rechtsstaat zugrunde; man darf den Rechtsstaat nicht mit seinen Fehlern gleichsetzen. Der Rechtsstaat ist der fortgesetzte Versuch, so gut es nur geht, menschliche Sicherheit zu gewährleisten. Man muss nicht den Rechtsstaat, sondern seine Fehler abstellen. Das geschieht nicht dadurch, dass man sein Betriebssystem ändert.

Die richtige Reaktion auf die Untaten der Silvesternacht ist also nicht, den Grundsatz "Im Zweifel für den Angeklagten" durch ein "Im Zweifel für das Opfer" zu ersetzen. So stürbe der Rechtsstaat an seiner Verteidigung. Er muss auch schon früher verteidigt werden als im Gerichtssaal; Strafverhandlung und Strafe sind erst das letzte Mittel, sie sind Ultima Ratio. Erstes Mittel, Prima Ratio, sind gute Vorbeugung, kluger Schutz, vorsorgende Polizeipräsenz und schneller polizeilicher Zugriff.

In der Silvesternacht war die Polizei nicht präsent. In Berlin am Wochenende war sie präsent und wurde wild und gewalttätig attackiert. Diese Attacken waren nicht Berliner Folklore. Angesichts von vier Jahrzehnten Hausbesetzungs-Geschichte in Berlin sind zwar manche Beobachter geneigt, Randale wie die von der Rigaer Straße als eine Art autonomes Revolutions-Theater zu betrachten, das auch dafür da ist, den Ruf etlicher Ecken der Stadt als preußische Bronx zu festigen. Nein, das war kein Theater; es ist rechtsstaatsgefährlich, wenn eine extremradikale Linke eine Recht brechende Zone für sich reklamiert.

123 verletzte Polizisten nach einer Demonstration - das ist eine Bilanz, die dem Berliner Innensenator recht zu geben scheint. Der Mann propagiert eine Politik, die in bestimmten Situationen nicht mehr auf Reden, sondern auf Draufhauen setzt. Also: Knüppel aus dem Sack, Helm auf, fertigmachen zum Abferkeln? So heißt im Jargon ein scharfer, aggressiver und rücksichtsloser Polizeieinsatz. Aber: Ein Rechtsstaat sollte auf gewalttätige Volldeppen nicht vorsätzlich volltäppisch reagieren. Eskalation ist nie ein kluges Motto.

Deeskalation meint ja nicht polizeiliche Schwäche - sondern agieren statt reagieren. Deeskalation ist nicht Schmusekurs mit Gewalttätern, sondern der intelligente Einsatz polizeilicher Stärke. Es ist unintelligent, wenn die Berliner Sicherheitspolitik keine Linie und kein Konzept hat und dann die Polizei in die Schlacht schickt, um irgendeine Linie zu ziehen.

Berlin
:Bürgermeister von Berlin: "Im Moment ist nicht die Zeit für runde Tische"

Die Feuer vom Wochenende sind noch nicht gelöscht, da rufen autonome Gruppen zu neuer Gewalt auf. SPD und CDU lassen den Wahlkampf ruhen und stellen sich hinter die Polizei.

Von Thorsten Denkler und Jens Schneider, Berlin

Versäumnisse beim Reden sind nicht durch Polizeigewalt zu substituieren

Es gab einmal eine Berliner Linie. Der kurzzeitig Regierende Bürgermeister Hans-Jochen Vogel hat sie vor Jahrzehnten entwickelt: Neubesetzte Häuser sollen binnen 24 Stunden geräumt werden. Bereits besetzte Häuser werden nur geräumt, wenn der Eigentümer Strafantrag stellt und eine verträgliche Folgenutzung nachweist; Legalisierung anderer Besetzungen durch Verträge.

Zu diesem Zweck muss man allerdings mit Besetzern reden; und wenn Besetzer verbohrt sind und sich jedem Gespräch verweigern, wie die in der Rigaer Straße, muss man mit deren Anwälten reden. Versäumnisse beim Reden sind nicht durch Polizeigewalt zu substituieren.

Man landet sonst wieder bei einem wie dem Innensenator Heinrich Lummer vor 35 Jahren, der, kaum im Amt, das Prinzip Zuschlagen durchsetzte. Bei einer seiner Radikalräumungen kam am 22. September 1981 der Hausbesetzer Klaus-Jürgen Rattay ums Leben.

Mit dampfendem Vokabular mag ein Politiker kurzzeitig Eindruck schinden; Man wird ihn bald als Dampfplauderer entlarven. Rechtsstaatliche Politik produziert nicht Dampf, sondern Sicherheit.

© SZ vom 12.07.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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