Polizei in Stuttgart:Die heikle Frage nach dem Woher

Massives Polizeiaufgabe am Eckensee in Stuttgart. Dort war die Keimzelle der Krawalle vom Samstag zuvor. Der von der Po

Seit der Krawallnacht ist die Stuttgarter Polizei verstärkt in der Innenstadt präsent.

(Foto: Arnulf Hettrich/imago images)

Nach den Stuttgarter Krawallen ermittelt die Polizei die Geburtsorte von Eltern möglicher Täter. Darf sie das überhaupt? Und was sagt Innenminister Seehofer dazu?

Von Constanze von Bullion, Berlin, Nina von Hardenberg und Claudia Henzler, Stuttgart

Die Ermittlungen zur Stuttgarter Krawallnacht vom 20. Juni haben eine heftige Kontroverse ausgelöst. Denn die Polizei forscht bei Standesämtern nach, ob deutsche Tatverdächtige einen Migrationshintergrund haben. Die Polizei wies Vorwürfe zurück, sie betreibe "Stammbaumforschung". Sie habe lediglich die Nationalität der Eltern von Verdächtigen recherchiert, nicht der Großeltern. Dennoch sind einige Fragen offen.

Warum erfragt die Polizei überhaupt die Herkunft?

Nach der Randale in der Stuttgarter Innenstadt haben sowohl die Polizei als auch die Stadt Stuttgart und die Landesregierung davor gewarnt, die Tatverdächtigen vorschnell in eine Schublade zu stecken. Vor allem in sozialen Medien hieß es schon bald, es seien überwiegend Migranten oder Geflüchtete beteiligt gewesen. Die Mehrzahl der Tatverdächtigen hat jedoch eine deutsche Staatsangehörigkeit. Thomas Berger, Vizepräsident des Polizeipräsidiums, sprach nach den Ausschreitungen von einer "heterogenen Gruppe". Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) beauftragte Innenminister Thomas Strobl (CDU), ihm bis spätestens nach der Sommerpause einen Bericht über Beteiligte und mögliche Tatmotive vorzulegen. Man müsse sich sehr genau den sozialen Hintergrund der jungen Männer ansehen, die entweder Straftaten begangen hätten, indem sie Scheiben einwarfen und Geschäfte plünderten - oder indirekt dazu beitrugen, indem sie Täter anfeuerten oder filmten. Nur so könne man entscheiden, wie die Politik sinnvoll reagieren könne.

Wie ist die Haltung der Stuttgarter Grünen?

Gabriele Nuber-Schöllhammer, Fraktionsvorsitzende der Grünen im Stuttgarter Gemeinderat, sagte, sie sei irritiert, wie detailreich Polizeipräsident Franz Lutz die Herkunft die Tatverdächtigen aufgeschlüsselt habe. "Da wurde relativ deutlich der Migrationshintergrund in den Fokus gestellt", sagt sie. Es bestehe die Gefahr, dass die Debatte über die Ursachen der Krawallnacht zu sehr um diese Fragen kreise und die Gesellschaft gespalten werde. Grundsätzlich sei aber eine Analyse wichtig, wer beteiligt war und ob es in Stuttgart eine Gruppe junger Männer gebe, die sozial nicht ausreichend integriert seien. Möglicherweise hätten manche Jugendliche das Gefühl, sie gehörten nicht zur Gesellschaft. Hans-Ulrich Sckerl, innenpolitischer Sprecher der grünen Landtagsfraktion, findet soziale Verhältnisse relevant, zieht aber eine Grenze: "Die Frage nach der Nationalität der Eltern hilft hier nicht weiter und ist für polizeiliche Ermittlungen auch nicht Standard."

Was sagt Seehofer dazu?

Nach Ansicht von Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) sind Nachforschungen beim Standesamt über die Herkunft der Eltern von Straftätern angemessen. Zum einen handle es sich um einen "Gewaltexzess" in Stuttgart. Dieses "neue kriminelle Phänomen" sei genau zu untersuchen, sagte sein Sprecher am Montag. Zum anderen seien die meisten Tatverdächtigen Jugendliche und Heranwachsende. Hier seien "Aspekte der Prävention" besonders wichtig: "Insofern ist es ein polizeiliches Standardvorgehen, dass das soziologische Umfeld von solchen Tätern im Rahmen der Erforschung des Sachverhalts mit einbezogen wird." Neben Alter, Geschlecht und Bildungsgrad werde auch ein möglicher Migrationshintergrund recherchiert. "Selbstverständlich" würden auch Informationen über Eltern gesammelt, damit das Gericht am Ende eine "Gesamtabwägung" treffen könne. Es mache dabei einen Unterschied, ob jemand schon immer im Land gewesen sei oder erst seit Kurzem.

Sieht die Justizministerin das genauso?

Sieht die Bundesjustizministerin das genauso?

Aus dem Haus von Justizministerin Christine Lambrecht (SPD) kamen zunächst skeptische Töne. "Mir sind keine wissenschaftlichen Studien bekannt, die einen Zusammenhang der Nationalität der Eltern zu irgendwelchen Taten nahelegen", sagte eine Sprecherin am Montag.

Für die Strafzumessung im Jugendstrafrecht sei die Herkunft der Eltern "kein maßgeblicher Faktor". Strafverschärfend könne sie "keinesfalls" gewertet werden. Bei der Bemessung einer Jugendstrafe gehe es um die persönliche Schuld der Jugendlichen "und nicht um außerhalb ihrer Verantwortung liegende Umstände wie die Herkunft ihrer Eltern". Dennoch seien Gerichte auf gründliche Ermittlungen angewiesen. "Dazu gehören auch die Familienverhältnisse einschließlich der Herkunft der Eltern."

Ist die Anfrage zur Herkunft der Eltern polizeiliche Routine?

Tobias Singelnstein, Professor für Kriminologie an der Ruhr-Universität Bochum, hat erhebliche Zweifel an dieser Behauptung. "Das ist alles andere als Routine", sagt er. "Im Erwachsenenstrafverfahren verbietet eine solche Praxis sich eigentlich vollständig, weil wir ein Tatstrafrecht haben." Eine Straftat werde ohne Ansehen der Person betrachtet. Genaue biografische Details spielten vor Gericht in der Regel nur bei psychischen Erkrankungen eine Rolle. Die Migrationsgeschichte der Eltern habe in Erwachsenenstrafverfahren "nichts zu suchen". Anders sei es im Jugendstrafrecht, das eine erzieherische Wirkung entfalten sollte, so Singelnstein. Hier müssten die Lebensumstände genauer berücksichtigt werden: "Aber es sollen natürlich Lebensumstände sein, die wesentlich für das Tatgeschehen sind." Allein die Migrationsgeschichte, zumal der Eltern, sei nicht wesentlich. "Dass man eigens zum Standesamt gehen soll, um eine Information zu bekommen, die keinen wesentlichen Einfluss auf die Straffälligkeit hat, scheint mir sehr ungewöhnlich." Singelnstein hält das Stuttgarter Vorgehen für keine gute Idee: "Es ist extrem problematisch, weil es in der öffentlichen Debatte zur Wahrnehmung führt, dass Straffälligkeit und Migration miteinander verknüpft sind."

Was kann die Herkunft aussagen?

Nach der Definition des Statistischen Bundesamtes hat jemand einen Migrationshintergrund, wenn er selbst oder mindestens ein Elternteil nicht mit deutscher Staatsangehörigkeit geboren wurde. 2018 waren das 20,8 Millionen Menschen, also etwa jede vierte Person in Deutschland. Manche Studien fassen den Begriff aber auch weiter und beziehen Menschen ein, deren Großeltern eingewandert sind. Gleichzeitig gibt es Zweifel an der Aussagefähigkeit des Begriffs, schon weil die Definition auf jede vierte Person in Deutschland zutrifft und vom Erasmus-Studenten bis zum in dritter Generation ohne deutschen Pass hier lebenden Türken unterschiedliche Biografien einschließt. Gefordert wurde von manchen auch die Erfassung der Migrationsgeschichte in der Kriminalstatistik. Durchgesetzt hat sich das nicht. "Der Sinn von Kriminalitätsstatistiken ist nicht, irgendwelchen Spekulationen in der Öffentlichkeit entgegenzukommen", sagt Niklas Harder vom Deutschen Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung. "Wenn man es so wichtig findet, nach dem Geburtsland der Eltern zu fragen, dann stellt sich für mich die Frage: Was ist denn die Hypothese, die dahinter steht? Dass jemand, dessen Eltern in der Türkei oder in Polen geboren wurden, grundsätzlich krimineller oder weniger autoritätshörig ist? Sagen wir es mal so: Dafür gibt es, wissenschaftlich betrachtet, wenig Anhaltspunkte."

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