Krawalle am 1. Mai:Ich marschier jetzt mit

Die alljährlichen Ausschreitungen haben längst ihren ideologischen Hintergrund verloren: Heute bestimmen gelangweilte Revolutionäre und Krawalltouristen das Bild am 1. Mai.

S. Speicher

Der "revolutionäre 1. Mai" in Berlin ist längst ein Ereignis, auf das die Öffentlichkeit eingerichtet ist wie auf das Oktoberfest oder Weihnachten: es zieht heran, ohne dass es eines anderen Anlasses bedürfte als des erneuten Verstreichens eines Jahres.

Maikrawalle, Archivbild 2006, ddp

Für die Polizei sind die alljährlichen Ausschreitungen am 1. Mai kein Spaß.

(Foto: Foto: ddp)

1987 ging es los, seither ist kein Jahr ohne revolutionären 1. Mai vergangen. Er ist ein Ritus, und wie jeder echte Ritus hängt auch dieser zwischen der kalten Mechanik des Kalenders und dem Gefühl einer steten Erneuerung. Das macht seine Lebenskraft aus für die Veranstalter und - provokatorisch gewendet - für die bürgerlichen Gegner.

Gewaltniveau steigt wieder

Einmal im Jahr wird das Gewaltmonopol des Staates öffentlich herausgefordert; das ist für den, der sich diesem Gewaltmonopol unterwirft, empörend, weil eine Verletzung des Gleichheitsprinzips.

Doch ist der 1. Mai in Berlin nicht allein eine Grundsatzfrage. Für die Polizei, die sich zur Straßenschlacht bereithalten muss, sind die Ausschreitungen kein Spaß. Wohl gelang es über Jahre, durch eine Strategie der Deeskalation die Gewalt zu reduzieren. Auch viele linke Kreuzberger waren das Bürgerkriegsspiel satt; so entstand das Myfest, ein linkes, dezidiert gewaltfreies Volksfest.

Aber im letzten Jahr sprang das Gewaltniveau unerwartet wieder an. Es gab eine deutlich höhere Zahl von Verletzungen, es flogen mehr Brandsätze als gewohnt, es wurden Ermittlungen wegen versuchten Mordes eingeleitet, die allerdings an der unklaren Beweislage scheiterten.

Wie es zu den Exzessen 2009 kam, ist bis jetzt nicht richtig geklärt. Die Polizei trug offenbar die geringste Schuld. Auch der Fraktionsvorsitzende der Berliner Grünen, Volker Ratzmann, dem man einen scharfen Blick zutrauen darf - als Strafverteidiger hat er mehrfach Mandanten verteidigt, die nach Maiausschreitungen des Landfriedensbruchs angeklagt waren - lobte die Polizei, sie habe "gut und richtig" gehandelt.

Was aber ist dann passiert? Das geläufige Urteil spricht vom "Krawalltourismus". Der scheint jedoch zumindest im letzten Jahr eine geringere Rolle gespielt zu haben.

Ausreden, keine Motive

Die am 1. Mai 2009 Festgenommenen stammen zum größten Teil aus Berlin und seiner Umgebung. Jugendliche aus türkisch- oder arabischstämmigen Familien sind kaum noch vertreten. Wer festgenommen wird, äußert sich in aller Regel nicht über seine Motive, schiebt seine Tat auf den Alkohol und behauptet, er könne sich auch nicht erklären, was passiert sei. Das ist die nächstliegende Ausrede.

Aber wirklich sind Täter dabei, die man nicht erwartet hätte. Ein Angehöriger der Bundespolizei zum Beispiel war nach Berlin gereist und hatte dort Steine auf seine Kollegen geschleudert, er ist inzwischen zu 16 Monaten Haft auf Bewährung verurteilt. Es scheint eine Reihe Leute zu geben, die ohne größere politische Gedanken ihr Lebensgefühl steigern wollen, indem sie für einen Abend Bürgerkrieg spielen.

Im Auftrag des Senats hat der Berliner Kriminologe Klaus Hoffmann-Holland eine Studie über den 1. Mai angefertigt. Darin zitiert er einen Interviewpartner: "Für mich war das auch, also ich bin einfach kein sehr politischer Mensch so, also für mich ist das eher so, dass ich so Sachen spannend finde und dann auch mich damit durchaus identifizieren kann teilweise, aber überhaupt nicht da aktiv irgendwie das Gefühl hab, ich marschier jetzt mit, um eine Message irgendwie auch klar zu machen."

Setzt der "schwarze Block" als harter Kern die Gewalt nur noch in Gang, um dann abzuwarten, was die Gäste in ihrem Eifer noch beizutragen haben?

Gelangweilte Revolutionäre

So könnte es sein, ein weiteres Beispiel für eine Gesellschaft auf der Suche nach Grenzüberschreitung. Vielleicht aber überschätzt man doch die Bedeutung der Mitläufer. Vielleicht werden die Aktivisten der Gewalt aufgrund ihres größeren Geschicks nur nicht so schnell erwischt wie die mitflatternden Gimpel.

Doch selbst dann bleibt der Eindruck eines nicht politischen, sondern seelischen Ereignisses. "Berlin is burning" heißt das Motto dieses Jahres, "hohe Mieten und Verdrängung setzen die Stadt in Brand". Man muss wohl nicht boshaft sein, um die Freude am Feuer mitzuhören.

Die Kritik unterstellt regelmäßig, Gewalt werde von jedem als etwas Böses empfunden, insofern seien die Exzesse unverständlich. Tatsächlich macht Gewalt vielen Menschen auch Freude. Auf dem Land gab es früher kein Kirchweihfest ohne schwere Schlägerei am späteren Abend.

Das Gewaltniveau der modernen Gesellschaften ist beispiellos niedrig, die Affektkontrolle streng. Der revolutionäre 1. Mai in Berlin ist durch Gewöhnung ein Tag geworden, an dem die Affektkontrolle gelockert wird, das macht seinen Reiz aus.

Die Veranstalter selbst tun auf ihrer Homepage genug, allen politischen Ernst beiseitezustreifen. Auf einem der wechselnden Videoclips wurde kurz und umstandslos als das Ziel ein "Leben frei von den Verwertungszwängen und der ganzen ökonomischen Scheiße" ausgegeben. Gelangweilter kann man die Sache der Revolution nicht vertreten.

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