Nicht nur Schönheit ist vergänglich, wirtschaftlicher Erfolg ist es leider auch. Holger Schmieding hat das schon vor Jahren prognostiziert, er schrieb über die deutsche Wirtschaft in der englischen Sprache der Ökonomie: „Success breeds complacency“. Zu Deutsch: Erfolg macht selbstgefällig. Schmieding, Chefvolkswirt bei der Bank Berenberg, hatte die 2010er-Jahre als goldene Dekade Deutschlands ausgerufen. Die Wirtschaft wuchs und wuchs, die Arbeitslosigkeit fiel und fiel. Ein großer Erfolg, doch jetzt kommt die Quittung. „Ich hatte befürchtet, dass Deutschland danach wieder zurückfällt“, sagt Schmieding. „Aber das Zurückfallen ist jetzt stärker als gedacht.“ Autsch.
Schmieding ist ein Ökonom, der die Kennzahlen einer Volkswirtschaft in Schlagwörtern zusammenfassen kann. 1998 fällte er ein berühmtes Urteil über Deutschland, das bis heute nachwirkt. Der hiesigen Wirtschaft ging es so schlecht, dass Deutschland „der kranke Mann Europas“ sei, schrieb Schmieding. Das britische Magazin Economist übernahm die Zuschreibung, Schmiedings Spitzname für die deutsche Wirtschaft wurde danach auch von vielen anderen aufgegriffen.
Die Agenda 2010 brachte die Wirtschaft wieder auf die Beine
„Damals waren die beiden großen Probleme der verkrustete Arbeitsmarkt und der Anstieg der Lohnnebenkosten“, erinnert sich Schmieding. „Starre Regeln etwa bei Arbeitszeiten und Kündigungsschutz waren völlig übertrieben und aus der Zeit gefallen“, sagt er. Die Verkrustungen am Arbeitsmarkt abgeschmirgelt hat bekanntermaßen das Reinigungsduo Gerhard Schröder/Peter Hartz, ihr Putzmittel hieß Agenda 2010 beziehungsweise Hartz-Reformen. Natürlich war manches wirtschaftspolitisch strittig, aber insgesamt sind sich die Geschichtsbücher mittlerweile recht einig: Die Agenda 2010 brachte den kranken Mann Europas wieder auf die Beine. Es reichte zeitweise sogar für den Titel des Exportweltmeisters, jedenfalls bis die Chinesen die Deutschen daran erinnerten, dass dort doch deutlich mehr Menschen leben und somit auch mehr Exportgüter herstellen können.
Aber Moment, der kranke Mann Europas hatte noch ein zweites Problem: Die Sozialabgaben stiegen enorm. 1990 waren sie noch unter 36 Prozent gelegen. 1997 kletterten sie dann auf mehr als 42 Prozent. „Das war die Finanzierung der deutschen Wiedervereinigung durch die Hintertür“, sagt Schmieding. Nun steigen die Lohnnebenkosten wieder rasant, es erinnert an die Neunziger. Und es ist kein Ende abzusehen. Je nach Schätzung könnten die Sozialbeiträge bald schon auf ein neues Rekordhoch steigen und in der Zukunft gar ungebremst die 50 Prozent erreichen. Bei Beschäftigten würde dann, weil die Unternehmen die Hälfte der Abgaben zahlen, ein Viertel des Bruttolohns in den Sozialkassen verschwinden.
Die entscheidende Frage also an den Mann, der es wissen müsste: Herr Schmieding, ist Deutschland wieder der kranke Mann Europas? Der Ökonom zögert keine Sekunde: „Absolut nicht. Aber die Aussicht ist besorgniserregend.“ Im Vergleich zu Deutschland rund ums Jahr 2000 gehe es uns immer noch gut, sagt Schmieding. „Mit Betonung auf noch.“
Die Ausgangslage sei gut, aber Probleme müssten gelöst werden
Die Aussichten hält Schmieding nicht für hoffnungslos. Seine Analyse fängt mit den Stärken des Standorts an: „Deutschland hat einen solide finanzierten Staatshaushalt, um den uns andere beneiden.“ Deutschland hat die drittgrößte Volkswirtschaft der Welt und eines der höchsten Bruttoinlandsprodukte pro Kopf der Welt. Die Deutschen jammern also auf einem messbar hohen Niveau. „Unsere Probleme hätten andere Länder gerne.“ Die Ausgangslage sei noch immer ziemlich gut. Schmieding kann zum Beispiel Zahlen zur deutschen Industrie zeigen: Sie produziert zwar jetzt weniger als 2018. Aber die deutsche Industrie setzt mehr auf Qualität, sie produziert wertvollere, teurere Produkte. Ganz volkswirtschaftlich gesagt: „Mehr Wertschöpfung pro Produktionseinheit.“ Für die Wirtschaftsleistung ist das gut oder zumindest nicht so schlimm, wie manche gerade fürchten.
Zum Entspannen ist aber keine Zeit, Schmieding nennt eine Reihe von Problemen, die Deutschland lösen müsste. Das Land brauche dringend eine moderne und voll digitale Verwaltung. „Unsere Fähigkeit, Anträge schnell zu bearbeiten und das Land sinnvoll zu verwalten, nimmt Jahr für Jahr ab. Das ist ein echtes Wachstumshemmnis geworden“, sagt er. Am liebsten würde er qualifizierte junge Leute in Scharen in den öffentlichen Dienst schicken, damit die dort alles mal zackig durchdigitalisieren.
Die Deutschen stünden sich mit ihrem Perfektionismus selbst im Wege. Das gelte auch bei der Schuldenbremse. „Wir übertreiben bei der strikten Fiskalpolitik“, sagt Schmieding. „Die Idee der Schuldenbremse ist gut, aber man kann es wie jeder eigentlich sinnvollen Diät auch übertreiben. Wer nur noch Gemüse isst, wird auch nicht alt.“ Er schlägt vor, die Obergrenze für neue Schulden zu verdreifachen. Das Geld dürfe dann aber nicht für Sozialpolitik ausgegeben werden. Stattdessen müsste mehr in Infrastruktur, Innovationen und Rüstung fließen.
Doch die Schuldenbremse steht im Grundgesetz. So schnell kann man die nicht reformieren, selbst wenn Schuldenbremsen-Fan und FDP-Chef Christian Lindner nach seiner US-Reise diese Woche begeistert entscheiden würde, ins Land der Freiheit auszuwandern. Für eine Reform braucht es auch CDU und CSU, und Schmieding sieht da ein gewisses Eigeninteresse bei den beiden Parteien, eine Reform jetzt nicht anzupacken: „Die Union gewinnt wohl die nächste Bundestagswahl, auch weil die jetzige Regierung Probleme mit der Schuldenbremse und dem dauernden Streit über den Staatshaushalt hat“, sagt er. Dieses Abwarten sei angesichts der Umfrageerfolge für AfD und BSW jedoch ein Wagnis, warnt Schmieding: Die beiden populistischen Parteien könnten eine Sperrminorität im Bundestag erreichen und eine Reform blockieren. „Wir gehen sehenden Auges ein Restrisiko ein“, sagt er.
Als Schmieding Deutschland zum kranken Mann Europas erklärte, gab es weder eine Schuldenbremse noch AfD und BSW. Die Parallele zu heute sind somit die Lohnnebenkosten. Auch Unternehmen fällt das auf. „Der ein oder andere Mittelständler denkt zurück, wenn er längerfristige Investitionen erwägt: Das hatten wir schon mal“, sagt Schmieding. „Der wartet im Zweifel lieber ab und investiert nicht.“ Die Sozialbeiträge stiegen bisher allerdings nicht so hartnäckig über mehrere Jahre hinweg wie in den Neunzigern. „Noch sind die Lohnnebenkosten nicht unser größtes Problem, aber sie erfüllen mich mit Sorge“, sagt er. Bleibe es bei dem jetzt eingeschlagenen Kurs, könne das in die Krise führen. Und somit endet es doch mit der befürchteten und gefürchteten Warnung: „Wenn die Sozialabgaben weiter so steigen, können wir in drei bis fünf Jahren wieder der kranke Mann Europa sein.“