Süddeutsche Zeitung

Krankenkassen:Unterlassene Hilfeleistung

Schwerbehinderte Kinder haben Anspruch auf Hilfsmittel. Doch in der Praxis werden sie ihnen häufig von der Krankenkasse verweigert. Eine Mutter wehrt sich nun dagegen.

Von Rainer Stadler, München

Schon das erste Gutachten ging ziemlich daneben. Die Fachkraft des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) listete zwar auf mehr als einer Seite Befunde über Korbinian auf, der 18 Monate zuvor, im Januar 2017, als Frühgeburt mit schwersten Hirnschäden zur Welt gekommen war. Sie stellte fest, dass er "keine Kopf- und Rumpfstabilität entwickelt" hatte, der Kopf "bei kleinster Lageveränderung nach hinten oder zur Seite" wegkippe. Dass der Junge eine "diagnostizierte Fehlsichtigkeit" habe, dass er nachts oft schreie. Dass ihm "alle Mahlzeiten eingegeben" werden müssten und er die ganze Aufmerksamkeit der Mutter einfordere, er nicht allein liegen bleibe, meist getragen werden müsse. Dass ihm "eine Eigenbeschäftigung nicht möglich" sei.

Die abschließende Beurteilung des Jungen deckte sich allerdings nicht mit dieser Beschreibung. Sie lautete: Pflegegrad 3. Laut Gesetz bedeutet das: schwere Beeinträchtigung der Selbständigkeit.

Welche Selbständigkeit? Korbinians Mutter rätselt bis heute, wie die Gutachterin ihren Sohn so einstufen konnte. Carmen Lechleuthner, von Beruf Anästhesistin in einem Münchner Krankenhaus, lebt mit ihrem Mann, ebenfalls Arzt, und ihren vier Kindern in Pfaffenhofen. Seit Korbinians Geburt hat sie aufgehört zu arbeiten und kümmert sich rund um die Uhr um ihren jüngsten Sohn.

Oft erstellen fachfremde Ärzte die Gutachten

Inzwischen ist Korbinian vier Jahre alt und der Medizinische Dienst hat 40 Gutachten zu seinem Fall erstellt. Aufgrund seiner schweren Behinderung benötigt der Junge einen besonderen Rollstuhl, der seinem ganzen Körper Halt gibt. Beim Autofahren braucht er einen besonderen Sitz, der seinen Kopf hält, sonst kippt der zur Seite. Kommunizieren kann Korbinian nur über einen speziellen Computer, der über Augensteuerung funktioniert. Er ist geistig voll da und lacht viel. Sprechen kann er jedoch nicht, auch nicht mit Händen und Füßen, weil die entsprechenden Areale in seinem Gehirn defekt sind.

Seine Mutter war mit ihm bei hoch spezialisierten Ärzten, sie haben passgenaue Hilfsmittel für ihn ausgewählt. Damit soll der Junge unterstützt werden, wichtige Entwicklungsschritte in seinem Leben zu machen und etwas Selbständigkeit zu erlangen. Die Mutter reichte die Verordnungen stets bei ihrer Krankenkasse ein, die beim MDK jeweils ein Gutachten anforderte. Der MDK lehnte das Hilfsmittel ab. So ging das über Jahre.

Wenn Carmen Lechleuthner über die Gutachten spricht, lacht sie zuweilen bitter: Die vermeintlichen Expertisen wurden fast alle nur anhand der Akten erstellt. Kein MDK-Mitarbeiter machte sich die Mühe, Korbinian und seine Familie persönlich zu besuchen. So kam es etwa vor, dass Gutachter wiederholt schrieben, Korbinian könne aufstehen, allein, ohne Hilfe. Grotesk für alle, die den Jungen kennen.

Irgendwann reichte es Carmen Lechleuthner. Sie startete eine Petition

Bei einigen Gutachten ließ sich nicht herausfinden, wer sie erstellt hatte, sie waren nur mit einem Namen unterschrieben. Manchmal erfuhr die Mutter, dass es sich um Allgemeinmediziner handelte, ohne Ausbildung in Kindermedizin oder gar Neuropädiatrie. Sie lernte andere Familie kennen, die erzählten, ein Augenarzt oder ein Facharzt für Geriatrie, also Altersmedizin, habe ihrem behinderten Kind ein Hilfsmittel verweigert.

Carmen Lechleuthner ist durch Korbinian extrem beansprucht, in manchen Nächten wacht er 30, 40 Mal auf, wegen epileptischer Anfälle und weil er sich beim Schlafen nicht selbst drehen kann. Tagsüber muss sie immer bei ihm sein, weil er sich leicht verschluckt, was immer auch Erstickungsgefahr bedeutet. Natürlich brauchen auch die drei größeren Kinder ihre Zuwendung. Sie könnte gut verzichten auf einen Papierkrieg mit der Versicherung.

Aber weil praktisch alles abgelehnt wird, was sie beantragt, muss sie sich immer wieder mit den Ärzten beraten, die ihren Sohn behandeln. Von einer befreundeten Anwältin holt sie sich Tipps, wie sie ihre Widersprüche am besten formuliert. Selten ist es mit einem Schreiben getan. Im Oktober vergangenen Jahres hatte sie genug davon und startete eine Petition im Internet.

Manchmal werden Hilfsmittel genehmigt, aber das Kind ist da schon tot

Sie fordert die "direkte Kostenübernahme für verordnete Hilfsmittel" bei schwerbehinderten Menschen, die Abschaffung von Gutachten nach Aktenlage und eine Reform des MDK. Die Petition läuft noch bis Mittwoch. Bisher haben mehr als 54 000 Menschen unterzeichnet: Ärzte, Pflegekräfte, Betroffene und deren Angehörige. Sie haben fast 16 000 Kommentare hinterlassen. Fallschilderungen zeigen, wie sehr Betroffene und Angehörige in ganz Deutschland unter den Zuständen leiden, die Carmen Lechleuthner beschreibt.

Die Aktion hat einiges an Wirbel erzeugt. Das Fernsehen war mehrmals zu Besuch bei den Lechleuthners, mehrere Politiker wurden auf den Fall aufmerksam. Manfred Todtenhausen, FDP-Abgeordneter im Bundestag, bestätigte der Mutter, die von ihr geschilderte Praxis entspreche "leider der Realität und passt in die Landschaft einer grundsätzlichen Ablehnung der Kassen und des Wartens auf Widerspruch durch die Patienten". Corinna Rüffer von den Grünen schimpft, was mit Kindern wie Korbinian passiere, sei rechtswidrig und verstoße nicht zuletzt gegen die UN-Behindertenkonvention.

Auch aus Einrichtungen, die schwerbehinderte Kindern behandeln, hagelt es Kritik. Mona Dreesmann, Kindermedizinerin und Leiterin des Sozialpädiatrischen Zentrums Potsdam, sagt, sie sei oft tief beeindruckt, was die Eltern dieser Kinder leisteten. Sozialrecht und Krankenversicherung sollten sie eigentlich so gut wie möglich unterstützen. Stattdessen erhielten sie "reihenweise Nichtbewilligungen und Ablehnungen - man schämt sich". Barbara Schachtschneider vom Ambulanten Kinderhospiz München erinnert daran, dass es "um Kinder mit lebensbedrohlichen oder lebensverkürzenden Erkrankungen" gehe. Sie habe schon erlebt, dass Hilfsmittel erst genehmigt wurden, als die Kinder bereits verstorben waren.

Vielen Eltern fehlt selbst die Kraft, sich um Hilfe zu bemühen

Eine Sprecherin des Spitzenverbands der Gesetzlichen Krankenversicherung argumentiert, dass die Kassen grundsätzlich allen Beitragszahlern verpflichtet seien und deshalb auf Wirtschaftlichkeit achten müssten. Vieles, was Versicherte beantragten, werde erstattet. Die Zahlungen der Kassen für Hilfsmittel seien seit 2008 von 5,7 Milliarden auf 9,25 Milliarden Euro im vergangenen Jahr gestiegen. Das Bundesgesundheitsministerium ergänzt, derzeit würden jährlich etwa 19 Millionen Hilfsmittel in Deutschland verordnet. Bei 300 000 Fällen hätten Kassen eine Stellungnahme des MDK angefordert. Nur in einem Drittel davon seien die medizinischen Voraussetzungen für das Hilfsmittel nach Ansicht des Medizinischen Dienstes nicht erfüllt gewesen.

Das sind allerdings jährlich 100 000 Fälle. Und eine Studie des Kindernetzwerks, das Familien mit Kindern vertritt, die an seltenen Krankheiten und Behinderungen leiden, ergab, dass mehr als ein Drittel der Angehörigen "aufgrund der komplizierten Antragstellungen" überhaupt keinen Kontakt zu Ämtern und Versicherungen aufnahmen. Barbara Schachtschneider vom Kinderhospiz München sagt: "Vielen Eltern fehlt einfach die Kraft dafür."

Deshalb empfinden es fast alle Beteiligten als Segen, dass Carmen Lechleuthner die Missstände öffentlich gemacht hat. Am Mittwoch wird sie mit ihrem Mann und den vier Kindern von Pfaffenhofen nach Berlin reisen, begleitet von einigen Unterstützern. Sie haben einen Bus gemietet. Im Gepäck sind einige Rollstühle, die sie ins Paul-Löbe-Haus des Deutschen Bundestags schieben wollen, mit der Petition und den mehr als 54 000 Unterschriften darauf, um sie den Politikern des Petitionsausschusses zu übergeben. Anders als sonst hat die Familie für diesen Tag eine Pflegekraft gemietet, die sich um Korbinian kümmert - damit die Mutter für ihn kämpfen kann.

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