Süddeutsche Zeitung

Parteitag der Kommunisten in China:"Können sie uns einmal nicht für dumm verkaufen"

Immer weniger Chinesen nehmen ihre Führer ernst. Das Volk hat sich geändert, nicht aber die Kader. Früher brauchten die Regierenden in dem autoritären System die Akzeptanz ihres Volkes nicht. Doch die Zeiten haben sich geändert.

Kai Strittmatter, Peking

Zuerst waren Polizeikordons zu überwinden, vier oder fünf. Touristen auf dem Weg in die Verbotene Stadt mussten ihre Kappen abnehmen und ihre Mäntel öffnen. Auf den Treppen zur Großen Halle des Volkes posierten eine kostümierte Tibeterin und andere Abgeordnete mit bunten Hüten und Schärpen: die Quoten-Minderheiten. Wenig später drinnen der Einmarsch des Politbüros, der greise Parteiältere Jiang Zemin vorneweg, zum Marsch einer Militärkapelle, es klang ein wenig wie im Wanderzirkus.

Dann kam die Rede des Führers von 1,3 Milliarden Chinesen. Titel: "Unbeirrt auf dem Pfad des Sozialismus chinesischer Prägung marschieren und versuchen, den Aufbau einer in jeder Hinsicht moderat wohlhabenden Gesellschaft zu vollenden." Der "18 Da", der "Achtzehnte Große", der wichtigste Parteitag der KP seit einem Jahrzehnt, hatte begonnen.

In Minute vier fielen dem vorne sitzenden Jiang Zemin erstmals die Augen zu. In Minute 37 schwärmten von beiden Seiten langbeinige Hostessen mit Thermoskannen auf die Bühne und schwebten in symmetrischer Choreografie durch die Reihen der schwarz gefärbten Haarschopfe, um Tee einzuschenken. Der Redner punktierte seinen hypnotischen Singsang alle paar Minuten mit einem plötzlichen Bellen, ein meist unvorhersehbares Crescendo am Ende eines Satzes, das den Delegierten Befehl zum Applaus war.

Ein Beispiel: "Gemeinsam mit dem Marxismus-Leninismus, den Mao-Zedong-Gedanken, der Deng-Xiaoping-Theorie und den wichtigen Gedanken der 'Drei Vertretungen' ist der 'Wissenschaftliche Ausblick auf die Entwicklung' die theoretische Richtschnur, der die Partei lange Zeit FOLGEN MUSS." Aufschrecken. Beifall. Derweil schrieb ein Nutzer auf Sina Weibo, Chinas Mikrobloggingdienst: "Wie bitte? Kann mir mal jemand mit der Übersetzung helfen?" Und ein anderer: "Können sie uns einmal nicht für dumm verkaufen?"

Die Kommunistische Partei hat China auf ihre Art in die Moderne geführt. Dabei ist sie selbst aus der Zeit gefallen. Die bis in die Haarspitzen der Hostessen choreografierte Show in der Großen Halle ist die Wiederholung einer Inszenierung, die Chinas Bürger seit Jahrzehnten vertraut ist, und die dennoch viele von ihnen immer weniger verstehen. Es ist die Hochmesse einer Partei, die ihr Volk ins Internet- und Twitter-Zeitalter geführt hat und doch immer noch den alten revolutionären Ritualen verhaftet ist.

Da werden sich zwei immer fremder. Das liegt zum einen natürlich daran dass die Partei eine andere geworden ist, nämlich ein Hort der Korruption. Es liegt aber auch daran, dass sie sich trotz chamäleonhaftiger Wandelbarkeit in vielerlei Hinsicht treu geblieben ist - das Volk aber, das in den Städten zumindest, ist nicht mehr dasselbe. "Die Glaubwürdigkeit der Regierung zerfällt", meint Yu Guoming, Meinungsforscher an Pekings Volksuniversität. Man vertraut ihr nicht mehr.

Die Natur der Diktatur hat sich geändert

Das ist eine schlechte Nachricht für die KP. Aber warum? Brauchen die Regierenden in einem autoritären System die Akzeptanz durch das Volk? Ging es früher nicht auch ohne? Ja, es ging. Aber die Zeiten haben sich geändert. Die Natur der Diktatur ist eine andere. Nicht bloß, weil sich die Kommunisten umlackiert haben und nun dem Kapitalismus und der Profitgier frönen: Repression, Zensur und Propaganda sind zwar noch immer Pfeiler der Macht der KP - aber es kam ein weiterer hinzu, der immer wichtiger wurde, eine Abmachung mit dem Volk: Wir sorgen dafür, dass es euch immer besser geht, dafür findet ihr euch mit uns ab.

Die KP gab sich als Kümmerer: fleißige, selbstlose Führer, die Tag und Nacht fürs Wohl des Volkes und den Ruhm der Nation arbeiten. Das Bild aber hat selbst unter Gutgläubigen spätestens mit den Skandalen dieses Jahres große Risse bekommen. Die Menschen sehen den sagenhaften Reichtum der Familien der Obersten, während 150 Millionen Chinesen mit weniger als einem Dollar am Tag auskommen und die sogenannte neue Mittelschicht sich kaum noch eine Wohnung leisten kann in den teuren Metropolen.

Sie sehen den Zynismus vieler Funktionäre, und sie sind selbst zynisch geworden, was die KP angeht. Chinas Führer waren stets allmächtig, sie brauchten nie Verantwortung zu übernehmen, nie Rechenschaft abzulegen. Mit einem Mal aber sehen sie sich einem Volk gegenüber, auch Mitgliedern aus ihren eigenen Reihen, die genau das verlangen: Erklärt euch!

Und das hat viel mit den neuen Medien zu tun. China hat mehr als 530 Millionen Internetnutzer, aber wichtiger noch: mehr als 300 Millionen Nutzer von Weibo, Chinas ureigenem Mikrobloggingdienst. Weibo ist gerade einmal drei Jahre alt, es wurde 2009 geschaffen, weil Pekings Zensoren die unkontrollierbare Konkurrenz von Facebook und Twitter sperrten. Staat und Weibo-Betreiber zensieren fleißig - sie kommen bloß nicht nach.

Und so gibt es auf einmal eine gesellschaftliche Konversation in China. Wie überall ist es eine chaotische, manchmal idiotische, meist belanglose Konversation. Dennoch ist passiert, was die Partei immer fürchtete. "Zum ersten Mal reden die Chinesen miteinander", sagt Michael Anti, ein bekannter Blogger. Und zwar Wildfremde, über Tausende Kilometer hinweg. Und mit einem Mal werden in China nicht bloß Hundefleischesser an den Pranger gestellt, sondern auch korrupte Kader über Weibo gejagt.

Die unglaubliche Bedeutung des Netzes

So kam es, dass vergangene Woche die US-Wahlen auf Sina Weibo zum Thema Nummer eins wurden. Und so kommt es, dass ein Artikel des Propagandablatts Global Times, der diese Wahlen "eine Schande" nannte, weil Wähler mancherorts sieben Stunden Schlange stehen mussten, auf Weibo mit Hohn und Spott überschüttet wurde: "7 Stunden Warten nennen sie eine Schande. 63 Jahre Warten nennen sie Fürsorge", schrieb einer.

"Das Netz hat für China unglaubliche Bedeutung", sagt Dai Qing, eine Autorin, die einst ein Jahr im Gefängnis saß, weil sie nach dem Massaker vom Tiananmen-Platz öffentlich aus der Partei austrat. "Es ist eine Schule, eine Bibliothek, vor allem aber eine Bühne, auf der du mit einem Mal Stimmen hörst, die nie zu hören waren. Zum ersten Mal haben wir etwas Freiraum bekommen in diesem Land." Bei aller Begeisterung aber warnt Dai Qing wie viele andere davor, die Macht des Internets in China zu überschätzen: "Zensur und Kontrolle sind so stark, auf der politischen Ebene ist das Netz zur Unfruchtbarkeit verdammt. Was auch immer du organisieren möchtest - sofort steht die Polizei vor der Tür."

Die Partei versucht, das Netz auch für sich zu nutzen: An der Parteihochschule wird gelehrt, wie man Weibo einsetzt, der Chef der Weibo-Firma Sina persönlich nahm ein Schulungsvideo für die Kader auf. Und doch ist das Spielfeld ein anderes geworden. Gerüchte, Skandale, Verschwörungstheorien, Nachrichten von Machtmissbrauch, Fotos von Polizeigewalt - über Weibo stürmt auf Chinas Städter eine Flut von unüberprüfbaren Informationen ein, gegen die die alte KP-Propaganda nicht mehr ankommt.

Das Ergebnis nennt der Trierer Politikwissenschaftler Sebastian Heilmann ein "Grundrauschen des Misstrauens". Unter Verdacht steht immer die Macht, die Partei. Und die? Glaubt noch immer, sie könne abtauchen, wenn den Familien der Machthaber Bereicherung am Volksvermögen vorgeworfen wird. Oder sie glaube, sich nicht erklären zu müssen, wenn der designierte starke Mann im Sommer für zwei Wochen verschwindet.

Unter den 2300 Delegierten der KP sei auch ein "Internet-Guru", meldete die amtliche Nachrichtenagentur Xinhua am Freitag stolz: Shu Bin, Chef eines lokalen Netzportals aus der Stadt Changsha. Shu twittert nun auf Weibo. Zum Beispiel lud er das Foto einer kostümierten Delegierten hoch. "Sie ist Parteichefin eines Minderheitendorfs", schrieb er dazu. "Das Bild wurde gepriesen von den Nutzern. Einer schrieb: ,Was für ein lebendiges Bild! Viel besser als die Fernsehberichte!'", berichtete Xinhua. Der Bericht schließt: "Shu weiß genau, wie man die Aufmerksamkeit der Menschen erlangt." Vielleicht aber auch nicht.

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SZ vom 10.11.2012/jasch
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